Ein Anruf, der ihr Leben veränderte…
Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Lilith, 15 Jahre
Das Telefon klingelte, während Mila gerade dabei war, die aktuelle Version ihres Praktikumberichts zum gefühlt zwanzigsten Mal zu überarbeiten – es war wirklich nicht sonderlich nett gewesen, diese Ausarbeitung über die Ferien aufzugeben - aber gut. Jetzt quälte sie sich eben zum hoffentlich letzten Mal durch die allerfeinsten Korrektoren in Sprache und Format ihres zwanzigseitigen Textes.
Das Klingeln ertönte erneut. Wer rief denn jetzt an!? An einem Dienstagvormittag!? Wenn keine Ferien waren, war zu dieser Zeit doch nie jemand zu Hause – das sollten selbst die Werbefuzzies wissen, die sie und insbesondere ihre Mutter ununterbrochen belästigten – und die Mila immer wieder abwimmeln musste. Sie hasste es, diesen Angestellten, die in ihrem pseudofreundlichen Ton und mit ihrer überaus korrekten Wortwahl, pausenlos auf sie einredeten, tausend Mal erklären zu müssen, dass momentan niemand anderes als sie zu Hause sei und sie auch ganz sicher sowohl keinen neuen Handstaubsauger oder Türabtreter als auch keine „ultramoderne“ Porzellankatze kaufen wolle, bevor sich diese endlich geschlagen gaben und ein erzwungenes „Tschüss! Dann bis zum nächsten Mal!“ herausbrachten.
Gerade jetzt war sie jedoch besonders sauer auf das Telefonklingeln, da das Hauptthema der Schicksalssymphonie von Beethoven - ihr Vater hatte auf dieses klassische, seiner Meinung nach überaus grandiose Werk bestanden - sie nun vollkommen aus dem Konzept brachte. Trotzdem machte sie sich schließlich auf die Suche nach dem Telefon - man konnte schließlich nie wissen, ob vielleicht doch auch einmal jemand anderes als nur Firmenvertreter anriefen.
Also rannte sie jetzt die zwei Stockwerke nach oben, von woher sie die klassische Musik vernommen hatte - warum musste sie verdammt noch einmal einen so faulen Bruder haben, der es nie lernte, dass es für die Mitbewohner dieses Hauses ganz angenehm wäre, wenn er das Telefon nach dessen Benutzung auch wieder an dessen ursprünglichen Platz zurückbrachte!? - Nerv!
Nachdem sie es schließlich geschafft hatte, auf die grüne Taste zu drücken, gerade noch kurz bevor der Anrufbeantworter ansprang, rief sie wie immer „Wibekind, Mila; Hallo!?“ in den Hörer. Sie sprach am Telefon immer übertrieben laut – das hatte sie von ihrer Mutter, bei der man einen Hörschäden bekam, wenn man mit ihr telefonierte und den Lautsprecher nicht mindestens zwei Meter von seiner Ohrmuschel entfernt hielt, da sie gedanklich immer noch im letzten Jahrhundert lebte und sich von der Vorstellung leiten ließ, dass das Telefon nur ein Accessoire sei und sie in Wirklichkeit eigentlich bis zu ihrem Gesprächspartner ohne Telefonleitung brüllen müsste – Mila teilte diese Überzeugung zwar nicht wirklich, in die Genetik war es aber anscheinend doch mit eingeflossen.
Daher war an diesem Telefonat zumindest zu Beginn nichts anders als an jedem anderen – und Mila ahnte noch lange nicht, wie sehr es ihr Leben verändern würde.
„Hi Schatz! Schau mal bitte auf deine facebook-Seite!! Da passiert gerade etwas vollkommen Seltsames. Es geht irgendso eine Nachricht rum mit einem total seltsamen Text. Warte! Ich lese ihn dir kurz einmal vor:
Und dann ist da noch ein Link. Irgendwie postet das dein facebook-Account gerade auf die Seiten von all deinen Freunden!“
Mila war ein beliebtes Mädchen gewesen. Sportlich, intelligent, hilfsbereit, selbstbewusst und ganz besonders dickköpfig. Sie war fast überall beteiligt, plante zahlreiche Aktionen, die auf Missstände in der Welt aufmerksam machen sollten – und hatte viele Freunde. Ihre facebook-Liste zählte über 500 – dabei ist anzumerken, dass sie nie jemanden annahm, den sie nicht persönlich kannte, oder den sie zwar kannte, aber nicht wusste, was sie jemals mit ihm über facebook besprechen sollte. Sie nutzte diese Plattform meistens nur dazu, um auf dem Laufenden zu bleiben, oder andere auf dem Laufenden zu halten. Nutze sie, um auf Aktionen hinzuweisen, Anhänger und Beteiligte zu gewinnen und Termine und Treffpunkte bekannt zu geben.
Nach einem richtigen Bild von ihr selbst konnte man auf ihrer Seite vergeblich suchen. Stattdessen hatte sie eine Petunie – ihre Lieblingsblüte - als Profilbild, ihr Hintergrund war eine Fotografie aus dem letzten Urlaub, auf dem man nichts sah als Palmen und Meer bis zum Horizont.
Sie hatte nie viel über sich in ihrem virtuellen Profil bekannt gegeben, hatte weder bestätigt, welche Schule sie besuchte, noch ihr wirkliches Geburtsdatum eingetragen. Den „Like“- Button verwendete sie ausschließlich für Aktionen, die von ihrem Gymnasium oder ihren Freunden ins Leben gerufen worden waren und den Beziehungsstatus hatte sie einfach durchgehend auf „Single“ gestellt – was zwar auch stimmte, aber auch wenn sie einmal einen Freund haben würde, sah sie keinen Sinn darin, dies sofort der gesamten facebook-Welt bekannt zu geben.
Es gab viele Jungs, die auf sie gestanden hatten. Mila war groß, schlank und ihre dunklen Augen, strahlten irgendetwas Geheimnisvolles aus. So rund und glänzend. Ihre langen schwarzen Haare trug sie meist offen, sodass sie in großzügigen Wellen über ihre Schulter flogen. Nur im Sommer band sie diese zu einem Pferdeschwanz zusammen, wenn es ihr zu heiß wurde und ihre Haare drohten, an ihrem T-Shirt festzukleben.
Sie hatte nie auf die Anfragen, der Jungs reagiert, rückte ihre Handynummer nur sehr sparsam heraus– sie wollte keinen Freund. Hatte einfach keine Zeit dazu und war sich jetzt schon sicher, dass er sich spätestens einen Monat nach dem ersten Kuss darüber beklagen würde, dass sie bisher immer noch kein einziges Mal mit ihm ins Kino, Schwimmbad, oder ähnliches gegangen war und sie bisher vielleicht gerade einmal zwanzig Sätze persönlich, und drei Nachrichten per Handy ausgetauscht hatten – nein! Ein Junge passte in ihren Zeitplan wirklich überhaupt nicht mehr rein – aber diese Einstellung machte sie nur noch interessanter.
Ein halbes Jahr später, traf ein schwarzhaariges Mädchen bei der Polizei ein. Sie war hübsch. Ihre langen schwarzen Haare, fielen in großzügigen Wellen über ihre Schultern, ihre Augen zogen mit ihrem tiefen Braunton den Blick von Tim, der ihren Fall übernehmen sollte, magisch an. Doch irgendetwas trog an dem Schein dieses hübschen, jungen Mädchens. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er, wie stark die Fingernägel des Mädchens abgekaut waren, wie abgemagert ihr gesamter Körper wirkte und wie traurig und verzweifelt ihn die eigentlich so schönen Augen tatsächlich anstarrten. Unterlegt von einem tiefen Schatten der Augenringe, die von schlaflosen Nächten erzählten und umrahmt von einem roten Schein, der zählen ließ, wie oft sie in ihrem Leben schon geweint haben musste. Ihre gesamte Körperhaltung wirkte ängstlich. Etwas in sich geschlossen. Einsam.
Als er sie bat, ihm doch bitte zu erzählen, worin ihr Anliegen bestünde, wollte sie sich gar nicht erst setzen. Als sie es letztendlich doch tat, schaute sie sich ununterbrochen unruhig um. Ihr Blick schnellte von seiner Ausgangsposition in der Mitte immer wieder ruckartig nach rechts oder links, wenn sie meinte, etwas gehört, oder einen fremden Blick im Nacken gespürt zu haben. Ihre Augen immer wachsam und ängstlich. Wurde sie verfolgt!?
Als sie begann zu erzählen, war ihre Stimme so leise, dass sich Tim ein wenig nach vorne über den Tisch beugen musste, um sie zu verstehen. Ihre Stimme war nicht nur leise, sondern auch zittrig, immer wieder stockte sie mitten im Wort und das Mädchen schien andauernd den Faden ihres Berichtes zu verlieren.
Tim schaffte es nur, einzelne Wortfetzen zu verstehen: Hacker, facebook, Nacktfotos, die nicht ihre waren, Foto - Shop, Anti-Gruppe, schon wieder facebook, Neid, Angst, Drohbriefe, Freunde, Feinde, Kommentare, Bilder…
Mehr konnte er nicht entschlüsseln, bevor das Mädchen vor seinen Augen in Tränen ausbrach.
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Autorin / Autor: Lilith, 15 Jahre