*Anna Dunge*
Schwer atmend schaue ich mich im Raum um. Weiße, kahle Wände. Ein einsames Licht hängt von der Decke herab, mein Bett steht klappernd in der linken Ecke des Raumes. In den Räumen gegenüber hört man vereinzelt Schreien. Vereinzelt Weinen. Und ebenso vereinzelt tiefes Schweigen und bittere Ruhe. Ich will hier raus. Ich will hier raus. Ich will hier raus.Geflissentlich habe ich übersehen, was er mit mir anstellte. Wie er meine Gedanken und Gefühle manipulierte und mein Herz nach und nach in kleine Scherben brechen ließ.
*Olivia Dunge*
„Mom, wir müssen doch irgendwas tun, um sie da rauszukriegen. Das kann doch nicht so weitergehen!", hysterisch bettele ich meine Mutter an. „Schätzchen, deine Schwester ist krank. Ihr wird es dort gut gehen. Besser als hier zu Hause, besser als in der Schule, besser als.. Im Internet." Niedergeschlagen lasse ich mich in den Küchenstuhl fallen. „Internet" ist seit Annas Einzug in die Klinik ein Wort, welches unsere gesamte Familie auf einen Schlag zum Schweigen bringen kann. Dieses eine Wort, diese drei Silben, diese acht Buchstaben, die in unserer Familie mit dem Ruf eines Krebstumors zu vergleichen sind. „Du willst Anna also tatenlos zuschauen, wie sie sich Stück für Stück weiter in die Scheiße reinreitet? Wie sie Stück für Stück verkommt, bis nur noch ein Häufchen Elend übrig ist?"
*Anna Dunge*
Gähnend schaue ich auf die weiße Wanduhr, an der Wand über meinem Bett. 07:26 Uhr. Ich reibe mir die Augen und stehe aus meinem klapprigen Bett auf, setze mich schlagartig aber wieder auf die Bettkante, da mich ein Schwindelanfall überfällt. Noch 4 Minuten bis zur nächsten Sprechstunde. Ich mache mich also nach wenigen Augenblicken auf den Weg zum Sprechsaal. Dort angekommen, erwartet mich bereits Frau Doktor Fließhofen, welche mich lächelnd zu ihr ruft. „Zu früh zum Lächeln, Doktor", muffig schlendere ich auf sie zu und gehe wortlos in den Sprechsaal.
*Olivia Dunge*
Diese Nacht habe ich kaum geschlafen. Ich habe meine Zeit damit verbracht zu recherchieren, wer derjenige war, der meine Schwester so mental missbraucht hat. Mom verbietet mir diese angebliche „perfide Übertreibung", doch es ist nicht anders zu bezeichnen, schließlich wollte Anna sich umbringen. Anna war nie wie alle anderen. Sie liebte Fußball und Mangas, trug sogutwie jeden Tag ihren Nirvana Hoodie und warf sich meistens stillos eine Jacke über. Mich hat das nie gestört, schließlich liebe ich meine Schwester nicht wegen ihres Aussehens, doch dem Rest der Gesellschaft erging es anders. Anna ist ein starker Mensch. Auch wenn sie wusste, dass sie Hasskommentare erwarten, hat sie Bilder von ihren Mangas gepostet, ein Rock n Roll- Zeichen vor ihren Nirvanapullover gehalten und auch dieses Foto gepostet. „Hinterwäldler", „Emo" „Geh dahin wo du hingehörst", haben sie ihr gesagt. Doch eigentlich hat es ihr nie etwas ausgemacht. Sie war stark, die stärkste Person, die ich kenne, bis sie eines Tages immer stiller wurde, oft weinte und schließlich vom Hausdach in meine mit tränengefüllten Augen blickte. Wütend scrolle ich durch weitere, diverse Facebookprofile von Annas Freunden. Die Rede hierbei ist von Facebookfreunden. Außer Max hat Anna nämlich keine richtigen...
*Anna Dunge*
„Ich möchte gerne die ganze Geschichte wissen. Und die Betonung liegt heute auf ganze.", ernst schaut mir Frau Doktor Fließhofen in die Augen. Ich atme tief ein und setze meine Geschichte an: „Er hat angefangen mich auszufragen, über diverse Themen. Schönheit, Tierschutz, unsere Schule. Schon immer hatte ich eine andere Meinung, als alle anderen, ich bin immer gegen den Strom der Mehrheit geschwommen und das hat er gewusst. Ich habe Kommentare erhalten, die auf meine Antworten verweisen, die ich ihm gegeben hab. Als wäre es eine Schande seine Meinung zu äußern. Wir leben im 21. Jahrhundert! Ich solle mehr Mädchenzeugs machen, anstatt Fußball zu gucken, ich solle mich mal schminken, das machen nämlich alle weiblichen Stars auf Instagram so, hat er gesagt. Und alle haben ihm zugestimmt. Ich ging die Schulflure lang, wurde von allen Seite beleidigt, ich ging nach Hause, wurde dort im Internet von meinen Mitschülern beleidigt. Von ihm beleidigt." „Darf ich fragen wer „er" ist?”, fragt mich Frau Doktor Fließhofen. Ich schlucke. „Max."
*Olivia Dunge*
„Ich habs, ich habs, ich habs!" Nach stundenlanger Recherche habe ich also endlich herausgefunden, wer für Annas seelischen Zustand verantwortlich ist. Max. Ich habe ihn natürlich gleich zur Rede gestellt und seine Begründung darauf war, er wollte mehr Aufmerksamkeit seiner Mitschüler erlangen und da erschien ihm Anna als einfachstes Mittel. „Du verdammtes Miststück", habe ich ihn angeschrien und ihm, zu meiner eigenen Überraschung, eine verpasst. Meine ganze Wut in einen Schlag. Man, tat das gut! Zu Hause angekommen, öffne ich meinen Facebookacoount und klicke auf „Verfassen":
~kursiv~Liebe Mitläufer und Mitläuferinnen,
sicherlich ist einigen von euch bereits aufgefallen, dass Anna nicht mehr in der Schule ist. Niemand da zum Ärgern, jammerschade. Ich wollte euch da draußen nur teilhaben lassen, dass ihr alleine an dem Selbstmordversuch meiner Schwester Schuld ward. Ja, genau du! Wie gerne würde ich euch allen durch den Bildschirm eine scheuern, so wie ich Max eine gescheuert habe, „eurem Anführer", das verfluchte Miststück. Das Internet ist zu groß, um Mobbing in Zaun zu halten. Also nehmt eure verdammte Würde zusammen und denkt nach, bevor ihr handelt. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass Anna es überlebt hat, denn ansonsten wärt ihr alle Mörder. Jeder einzelne von euch. Ich bitte darum diesen Beitrag zu teilen, damit er die Welt erreicht, FÜR EIN NETZ OHNE MOBBING!+ Veröffentlichen. „Das ändert zwar nicht das Hier und Jetzt und auch nicht das Gestern und Vorgestern, aber hoffentlich das Morgen und Übermorgen", murmele ich und schließe den Laptop.