Ich las. Ich las alles laut, in der Hoffnung, dass sie es hören konnte. Ich setzte mich zu
ihr und erzählte von den Grüßen, die für sie in den Social Networks geschrieben
wurden. Kommentare, die voller Bewunderung waren. Die ihr Mut und Zuversicht
spenden wollten und ihre Sache unterstützen würden.
Ich las es ihr so gerne vor. Ich lächelte und streichelte über ihre Hand. Erzählte ihr,
wie sie die Welt ein bisschen besser gemacht hat. Auf ihre nicht wirklich sanfte Art
und Weise. Sie war mehr als nur eine Heldin für mich. Sie war mein Engel. Nicht dass
sie mit ihren kurzen struppigen blauen Haare danach aussah – Nein, ganz und gar
nicht! Und auch ihr Benehmen war alles andere als engelhaft. Sie war frech und
vorlaut. Ganz anders als ich. Sie hatte mich vor dem Ertrinken gerettet. Sinngemäß,
denn auch wenn man im Internet surfen konnte, ertrinken würde das, was mir passiert
war, niemand nennen.
Social Networks sind wie Haifischbecken, ein Becken in dem jeder Normale
irgendwann mal gefressen oder angeknabbert wird. Entweder durch einen dummen
Kommentar, einen Post, oder einfach nur durch seine Anwesenheit. Und das war mir,
einem kleinen Fisch, passiert. Ich wurde ein Opfer, ein Opfer von Cybermobbing. Ich
musste solch üble Hetze über mich ergehen lassen und das schlimmste - alle meine
damaligen „Freundinnen“ verließen mich, aus Angst ihnen könnte das gleiche
passieren. Angst, die sie vergessen ließ, dass dies die Sache nur noch schlimmer
machen würde.
Ich war allein, völlig isoliert. So allein und voller Angst, noch mehr gehasst zu
werden, dass ich jeden Tag ein wenig mehr etrank. Ertränkt von den Selbstzweifeln,
von den Blicken, den Kommentaren, von der Einsamkeit. Ich konnte nicht mal mehr
um Hilfe bitten. Denn durch die Angst wurde ich stumm. Wie ein Fisch. Ein toter,
ertrunkener Fisch!
Doch jemand zerrte mich an die Oberfläche. Es war sie. Sie lächelte mich an, sprach
mit mir, weil ich einen süßen Anhänger hatte, einen Delfin. Sie lachte und erzählte mir
über ihre Liebe zu Meerestieren. Ich fing durch ihre Leichtigkeit an, wieder laut zu
werden, zu lachen. Wir lachten gemeinsam. Wir gingen überall zusammen hin. Auch
wenn ich in der Schule allein war, gab sie mir Kraft. Ich öffnete mich ihr, erzählte
sogar nach einer Zeit, was ich für ein Loser wäre. Wie mich alle hassten. Ich hatte
solch eine Angst sie würde nicht mehr bei mir bleiben. Doch sie blieb, kommentierte
auf ihre freche Art die Kommentare und schrieb den Leuten, wenn sie ein Problem
mit mir hätten sollten sie es vorher mit ihr klären. Irgendwann ließen sie mich in
Ruhe. Ich wurde unsichtbar. Ich war ihr so dankbar. Sie war so toll!
Doch es blieb nicht dabei. Sie erzählte mir von ihren eigenen Erfahrungen, welche
furchtbaren Sachen ihr solche Menschen wie die, die mir diese Kommentare
geschrieben hatten, angetan hatten. Ich weinte. Sie weinte. Es war alles so furchtbar.
Und doch hatte sie es geschafft, sich aus diesem schleimigen Sumpf zu befreien.
Aufzustehen und sogar mir zu helfen. Es ließ meine Bewunderung für sie nur mehr
entflammen. Sie war mehr als nur stark. Sie war unglaublich. Wir erlebten so viele
glückliche Momente. Wir durchstreiften das Net, nach Menschen, die ähnliches wie
wir erlebten. Wir versuchten zu helfen. Wir fanden dadurch neue Freunde. Es
erschloss sich uns eine neue Welt.
Doch die glückliche Zeit verging! Denn sie offenbarte mir ihr letztes Geheimnis. Sie
war krank, sterbenskrank. Sie erklärte mir unter Tränen, dass sie Menschen helfen
wollte, um im Gedächtnis zu bleiben. Eine bleibende Spur zu hinterlassen und sich
dadurch unsterblich zu machen. Sie war nicht so toll wie ich sie darstellte, sagte sie
mir. Sie war egoistisch. Ich konnte nichts auf ihren Monolog antworten. Ich war so
geschockt. Eingefroren in meinem Körper. Nicht fähig zu reden. Nicht fähig zu
weinen.
Wir erlebten weitere Momente, schöne und traurige. Ich versuchte jeden Moment mit
ihr zu genießen und nicht an ihren Tod zu denken.
Doch bald kam sie ins Krankenhaus und würde es auch nicht wieder verlassen. Ich
versuchte unsere Hilfe im Netz weiter zu machen und erzählte ihr es. Es waren die
wenigen Momente, in denen sie noch lachte.
Deswegen versuchte ich mehr und mehr Cybermobbing einzudämmen, ich schrieb
an Portale, Unternehmen, Zeitungen, alles was mir einfiel. Um ihr ein ewiges
Vermächtnis zu geben, wie sie es verdient hatte. Es klappte irgendwie. Ich erreichte
Investoren und bastelte mit Experten und Opfern ein Programm zusammen. Benannte
es natürlich nach ihr und als Symbol für die Anticybermobbingkampagne steht ein
Delfin. Alles ihr zu Ehren.
Ich weiß nicht, wie viel sie von allem noch mitbekommen hat. So voll war sie am
Ende mit Medikamenten. Nun war sie nichts weiter als eine leere Hülle, am leben
gehalten von einer Maschine.