Sie wusste nicht, wem sie ihre Geheimnisse offenbarte und schien auch nicht wissen zu wollen, wer sich hinter Ben Jo verbarg.
Einerseits war es ziemlich cool, ihr jegliche Information per Tastendruck aus der Nase zu ziehen, aber andererseits war es, was sie betraf, ziemlich traurig.
Seit einigen Wochen schon hockte ich entweder am Computer oder tippte auf der Handytastatur.
In meinem Facebook-Account war ich stets angemeldet und wenn mein Handy vibrierte, musste ich schon gar nicht mehr auf das Display gucken, um zu wissen, wer mir geschrieben hatte.
Mit Selina zu schreiben war ganz schön interessant. Mich, Bente Hoffmann, sprach sie nie an. Wenn sie doch gezwungen war, in der Schule mit mir zu reden, allerhöchstens in Gruppenarbeiten oder wenn ich ihren Stift aufheben sollte, dann im abfälligen Ton.
Es war wie in diesen Teenie-Filmen, in denen sich kleine Divas niemals mit dem Durchschnitt abgaben. Und, nein, es war nicht wie in diesen Filmen, in denen die Divas und der Durchschnitt Freunde wurden.
Selina hatte mich nie als Zielscheibe vor Augen gehabt. Eine einzige Person, die sie zu demütigen hatte, wäre für sie ein Kinderspiel gewesen. Sie liebte Herausforderungen, denn die Zielscheibe, die sie vor sich sah, bestand aus allen Schülern, die sie nicht leiden konnte. Und diese Zielscheibe war sehr, sehr groß. Dabei war es unwichtig, ob man ihr etwas getan hatte. Katy hatte ihr im Streit ins Gesicht gespuckt und, wer hätte es gedacht, sie fand ihren Platz genau in der Mitte der Zielscheibe.
Ich dagegen spielte einfach nicht in ihrer Liga. Ich war nicht so hübsch wie sie und trug auch nicht dieselben Klamotten wie sie.
Das war's. Das war der Grund, weshalb sie mich in ihre Zielscheibe gesetzt hatte.
Vermutlich am äußersten Rand, doch mit der Zeit würde ich immer weiter in die Mitte rutschen.
Und eines Tages würde ich Katy ablösen. Freiwillig? Bestimmt nicht. Aber Selina gab uns jeden Tag einen Grund, ihr ins Gesicht spucken zu wollen. Heute riss ich mich noch zusammen und schluckte die Worte, die ich ihr am liebsten in Gesicht geschleudert hätte, runter.
Aber wer wusste schon, wie es morgen aussehen würde?
Die Idee mit dem Fake Account auf Facebook kam mir beim Zähneputzen. Ich hatte wütend die Zähne geschrubbt - wütend, weil Selina sich öffentlich über meinen angeblichen Mundgeruch beklagt hatte und geschrubbt statt geputzt, weil ich langsam zu einem dieser psychisch instabilen Mädchen mutierte, die sich von solchen Kommentaren herunterziehen ließen.
Es war meine Identität als Ben Jo, die mich wieder hochzog.
Den Account zu erstellen war keine große Sache gewesen. Ich hatte ein Bild von einem gutaussehenden Jungen aus dem Internet heruntergeladen, es als Profilbild genommen und wahllos Freundschaftsanfragen an Menschen aus aller Welt geschickt.
Bereits nach zwei Tagen hatte ich fast 600 ,,Freunde“.
Am dritten Tag, die Zahl der Freunde stieg, schickte ich Selina ebenfalls eine Freundschaftsanfrage. Und sie nahm sie an. Ganz wie erwartet.
Ich wusste nicht, wie das Leben eines gutaussehenden Jungen aus Köln aussah, also ließ ich meinen Fantasien freien Lauf und dachte mir irgendwas aus.
Ben Jo, 17. Sportass, leidenschaftlicher Fußballspieler. Liebte seine Familie, schrieb gute Noten und hatte viele Freunde. Trug gerne Boxershorts von Calvin Klein und ausschließlich Sneaker von Adidas.
Mit jemanden wie Ben Jo würde ich nie, wirklich nie ein Wort wechseln. Ich konnte diese Art von Jungs nicht ausstehen. Selbstverliebt. Arrogant. Umso besser wusste ich, dass Selina auf ihn reinfallen würde. Er war genau ihr Typ.
Anfangs begannen wir mit Small Talk und es war erstaunlich, wie nett sie wirkte, wenn sie jemanden mochte. Bereits nach einer Woche schien sie mir soweit zu vertrauen, dass sie mir ihre Geheimnisse erzählte. Zunächst waren sie harmlos. Sie hatte ihrer besten Freundin einmal den Freund ausgespannt, ohne dass diese davon wusste und den Vogelkäfig absichtlich offengelassen, damit der neue Papagei ihres Vaters davonflog.
Ich fragte sie aus, lachte sie aus und machte dann das Handy aus. Dieser Reim beschrieb die letzten zwei Wochen, in denen ich mich besser gefühlt hatte. In diesen zwei Wochen war ich kein Durchschnitt gewesen. Klar, in der Schule war sie immer noch ein Biest, aber ich hatte etwas gegen sie in der Hand und das rettete mir jeden Tag, der sonst durch sie ruiniert geworden wäre.
Zwei Wochen lang genoss ich es, ihr jeden Tag zu begegnen und zu wissen, dass sie ihre Schwester einmal dazu gezwungen hatte, eine tote Fliege zu essen.
Zwei Wochen später landeten wir im Chat beim Thema Familie. Ben Jo liebte seine Familie ja über alles, aber Selinas Geschichte war... erschütternd? Traurig? Jedenfalls änderte sich mein Bild von ihr vollkommen. Ihre Schwester, die sie mit Mädchen wie mir und anderen Durchschnittlichen verglich, starb an einer Überdosis. Sie hatte die Demütigung anderer nicht ausgehalten.
An dem Tag, an dem Selina mir, bzw. Ben, ihr größtes Geheimnis offenbarte, gab sie auch bekannt, dass sie ihr Leben nicht mehr weiterleben wollte.
Sie sagte, sie wisse, dass es zwischen den Schülern, die ihre Schwester in den Tod getrieben hatten, und ihr keinen Unterschied gab. Dass sie sich für ihren Charakter schäme, aber nicht wisse, was sie an sich ändern solle.
Noch am selben Abend deaktivierte ich den Account. Ben Jo wurde gelöscht und meine Gedanken schwirrten solange wirr in meinem Kopf herum, bis ich sie ordnete.
Am nächsten Tag fand ich das Grab ihrer Schwester im hintersten Winkel des Friedhofes.
Und am Tag darauf sprach ich sie einfach darauf an. Ich sagte, dass eine Verwandte von mir neben Stella liegen würde und ich Blumen an Stellas Grab gelegt hatte, um die welken Blüten zu ersetzen.
Ich glaube, es war das erste Mal, dass Selina freundlich lächelte.
Wir redeten lange über ihre Schwester und ich sah ihr an, dass es ihr wirklich gut tat.
Die Wut, die ich stets auf sie gehabt hatte, löste sich von Zeit zu Zeit auf. Ich zeigte ihr, wie sie sich ändern konnte, damit ihre Schwester stolz auf sie wäre.
Sie müsse nicht ihren Charakter ändern. Sie müsse nur die schlechten Eigenschaften abstreifen und mehr Gutes tun. Fremde anlächeln. Schüler begrüßen. Jemanden, der gestolpert war, die Hand reichen. Die Zielscheibe musste von ihrer Bildfläche verschwinden. Ihr Fokus sollte auf Stella und auf ein besseres Leben liegen, statt grundlos Menschen zu demütigen.
Ein Jahr später wurde sie zu einem anderen Menschen. Einem besseren Menschen.
Ich fragte mich, wie sie heute wäre, wenn ich nicht in Ben Jos Rolle geschlüpft wäre.