Ich möchte eine Geschichte erzählen. Nicht irgendeine, sondern meine Geschichte. Ich habe einen Fehler gemacht. Nur einen. Aber dieser hat gereicht, um mein ganzes Leben zu verändern.
Es klingelte.
Pause. Normalerweise war es die Zeit, in der ich mit meiner besten Freundin Michelle auf der Treppe saß und mit ihr den neusten Tratsch austauschte. An diesem Tag nicht.
Michelle war wütend, weil ich dort saß. Ich saß nicht im Klassenzimmer, sondern vor der Tür von Frau Hofer. Was mich dazu trieb? Ich wusste es nicht mehr. Entweder mein schlechtes Gewissen oder die Sorge um Leonie, obwohl ich mehr auf mein schlechtes Gewissen tippte. Leonie konnte ich nicht einmal leiden. Als uns Herr Schmitt zu Partnern für das Geschichtsreferat gemacht hatte, beschwerte ich mich lautstark. Wer wollte schon mit Leonie zusammenarbeiten? Ich nicht und leider auch sonst niemand, sonst wäre ich nicht hier, sondern hätte den Partner getauscht.
Eine Woche später schickte mir Leonie dann zusammen mit einer Zusammenfassung ein Dokument, das ganz klar nicht für mich gedacht war. Einen Liebesbrief. Und zwar einen an Herrn Schmitt. Ich zeigte den Brief Michelle und wir machten uns zusammen über Leonie lustig. Michelle fand dann, dass sie den Brief auch ihrem Freund zeigen musste und dann geriet es außer Kontrolle. Der Brief blieb natürlich nicht unter uns, schon ein paar Tage später wusste die ganze Schule Bescheid und Leonie wurde zum Gespött gemacht. Glücklicherweise wusste niemand, woher Leonies Brief eigentlich kam. Auch Leonie hatte nicht die geringste Ahnung, wie der Brief an die Öffentlichkeit kam. Ich war also aus dem Schneider.
Natürlich blieb es nicht bei dem Brief. Plötzlich fielen ganz andere Dinge an Leonie auf, die irgendwie seltsam oder uncool waren - ihre schlechtgefärbten Haare, die zu kurzen Jeans und die Tatsache, dass sie nicht einmal einen Facebook-Account besaß. Der Tratsch und die Hänseleien breiteten sich aus - in den Schulfluren und im Netz. Es tauchten Bilder auf, die sie in unvorteilhaften Posen zeigten, etwa wenn sie in der Nase popelte oder gerade niesen musste. Ich hatte sogar miterlebt, wie sie mitten auf dem Schulflur in Tränen ausbrach. Ein Mitschüler hatte ihr ein Bein gestellt, so dass sie der Länge nach hingefallen war und sich dabei ihre Bücher über den ganzen Boden verteilt hatten. Alle hatten gelacht. Auch ich. Nicht weil ich es besonders lustig gefunden hatte, sondern weil es eben alle taten. So war das damals gewesen.
Was dabei allerdings niemand zu bemerken schien, war ihr Handgelenk. Noch bevor sie ihre Bücher wieder zusammengesammelt hatte, zog sie hastig ihren Pullover, der durch den Sturz nach oben gerutscht war, nach vorne um so ihre zerschnittenen Unterarme zu verdecken. Das war der Moment, in dem ich mit dem Lachen aufgehört hatte. Ich begann mir Sorgen zu machen und landete schließlich hier. Vor der Tür der Vertrauenslehrerin.
Es klingelte.
Die Pause war vorbei und von Frau Hofer war immer noch keine Spur zu sehen. Das wäre der Moment gewesen, um zu verschwinden. Niemand würde je erfahren, was ich getan hatte, und schließlich war es ja auch nicht mein Problem. Leonie war selbst Schuld. Sie hatte mir den Brief geschickt, dafür konnte ich nichts. Dass die Mail auch weitergeleitet werden würde, damit musste sie doch gerechnet haben.
Und trotzdem blieb ich sitzen. Ich starrte an die Wand und sah zu, wie der Sekundenzeiger der Wanduhr sich langsam vorwärts bewegte, bis er schließlich bei der Zwölf angelangt war, dort kurz verweilte und zusammen mit dem Minutenzeiger vorwärtssprang. Tick, tack. Meine Zeit lief ab.
Ich hörte Schritte. Definitiv Frauenschuhe. Es musste Frau Hofer sein. Das war die letzte Gelegenheit um abzuhauen. Und dennoch blieb ich sitzen.
Frau Hofer lächelte aufmunternd. "Guten Morgen."
Durch die aufkommende Panik verschluckte ich meine Begrüßung, es wurde eher ein Glucksen. Ich musste mich zusammenreißen. "Frau Hofer, ich muss ihnen etwas erzählen…"
Ich habe mich bei Leonie entschuldigt - mehrmals sogar. Und irgendwann hat sie meine Entschuldigung angenommen. Bald darauf wechselte sie die Schule. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen.
Die Geschichte hatte natürlich auch für mich Konsequenzen. Frau Hofer setzte sich für mich ein und bewahrte mich vor einem Schulverweis. Ich hätte Leonie am Ende gerettet und meine Tat bereut. Außerdem sei es viel effektiver, wenn ich mich aktiv mit dem Thema befassen würde. Ich besuchte einige Workshops der Gemeinde und erzählte meine Geschichte jedem, der sie hören wollte. Und irgendwann startete ich dann zusammen mit Frau Hofer eine Kolumne in der Schülerzeitung, in der ich Lesermails beantworte oder mir selbst Themen über Social Media aussuchte und darüber schrieb.
Ich bin keine Heldin. Ich trage weder Umhang noch Maske, rette keine Menschen vor drohenden Gefahren, aber ich biete meine Hilfe an. Ich tue was ich kann, um andere davon abzuhalten, dieselben Fehler wie ich zu begehen. Niemand sollte das ertragen müssen, was Leonie durchgemacht hat. Um ehrlich zu sein, ist es auch Leonie, die die wahre Heldin ist. Und zwar weil sie es überstanden und mir am Schluss verziehen hat.