Die Autobiographie der Zeit

Autor: Lilly Lindner

Buchcover

Die Autobiographie der Zeit von Lilly Lindner ist eines dieser Bücher, bei denen ich mir auch nach dem Lesen der letzten Seite nicht ganz sicher bin, ob ich es im Ganzen überhaupt verstehe. Ist es genial oder wirr? Ich habe mir Zeit gelassen, bevor ich versucht habe ein Urteil zu fällen, aber es fällt mir noch immer äußerst schwer.

Was sich aber auf jeden Fall sagen lässt: Das hier ist kein gewöhnliches Buch. Es versucht sich mit jeder Faser aus gegen die Erwartungen des Lesers zu wehren. Allein die Tatsache, dass auf dem Cover steht, es handle sich um einen Roman, erscheint als pure Provokation, da manche Kapitel nur aus einem Satz bestehen. Ich mag es, wenn Grenzen verschoben werden.

Worum geht es? Es geht um die personifizierte Zeit und um ihre Freunde Kevin, David und Shay – den Raum, die Beständigkeit und den Abgrund. Aber vielmehr geht es um das Leben der Menschheit, die Tragik unserer Existenz. Das Schicksal des Einzelnen lässt die Autorin völlig beiseite und betrachtet unser Dasein mit der Nüchternheit der Zeit. Hin und wieder jedoch ist es dem Leser erlaubt einen kleinen Blick in das individuelle Leben einer Einzelperson zu erhaschen. Dabei aber bleibt, im Angesicht der unsterblichen Zeit, eine gewisse Distanz die nicht überwunden wird. Das ermöglicht ein Aufrechterhalten der (scheinbaren?) Objektivität. Man schaut ein wenig von oben auf die menschliche Existenz herab, das aber völlig ohne abzuwerten, sondern mit einer gewissen resignierten Traurigkeit. Zum Zusehen verdammt. Oder eben dazu, die Zeit zu sein. Oder der Abgrund. Der Raum, die Beständigkeit. Weil man nicht anders kann. Weil jeder nur seine Rolle erfüllen kann und es nicht hilft in Salzsäure zu baden, wenn man unsterblich ist, oder sich auf Eisenbahnschienen zu legen.

Die Autorin spielt nicht nur mit ihren Figuren, sondern auch mit den Worten. "Der Psychologe nannte sich einen der Nachfahren der vielen davor verfahrenen Freuds. Und David nannte er Freund. Sie malt Bilder aus Worten. Ich hüllte mich in ein Wortgewand aus Sarkasmus und toten Gedanken." Ich mag solche Sprache. Aus jeder Zeile spürt man Gefühl, Gefühl für Poesie und Gefühl für Menschen. Dahinter mag eine scharfe Beobachtung ebendieser stecken, umgesetzt zu einem Sprachgebilde, dessen Aussage zu erfassen ich mich noch nicht komplett in der Lage sehe.

Wie ist das mit der Unsterblichkeit? Wir wussten alle, dass wir unsterblich waren. Aber dann kam der Tag. Am dem wir es vergaßen. Dieses Buch hat eine – zumindest mir – neue Idee aufgegriffen und erfolgreich umgesetzt. Wie viel in dem Text tatsächlich an Weisheiten steckt, mag jeder für sich herausfinden.

Nicht zu vergessen die sehr passenden Illustrationen von Lisa Wöhling, die das Geschriebene gelungen abrunden und der Geschichte ein weiteres Gesicht verleihen.

*Erschienen bei Droemer Knaur*

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Autorin / Autor: islenski.hesturinn - Stand: 18. Mai 2016