Lilith war bei der regionalen Auswahlsitzung des European Young Parliament (EYP) in Eckernförde und hat erfahren, dass Politik Spaß macht
„Dear Mrs. President, honourable members of the board, fellow delegates…”
Ich sitze als eine von insgesamt 160 „Delegates“ auf einem der bequemen Stühle in der ersten Reihe des Landtags Kiel. Ein Delegierter des Komitees ENVI ist gerade dabei, seine „defence speech“ zu beginnen, mit der er die Resolution verteidigt, die am Tag zuvor von seinem gesamten Komitee ausgearbeitet wurde.
Nach seiner „defence speech“, die alle anderen Delegierten von der hohen Qualität der Resolution und von der Wichtigkeit etwa eine halbe Stunde später für sie abzustimmen, überzeugen soll, wird nach „attack speeches“ gefragt – ein Delegierter eines anderen Komitees wird nun in einer zweiminütigen Rede die Punkte aufzeigen, die noch deutlich an der Resolution zu kritisieren sind.
EYP –drei Buchstaben, die für mehr stehen, als man auf 100 Seiten Papier beschreiben könnte – European Youth Parliament. Ich befinde mich gerade mitten in einer der Veranstaltungen, die diese Gruppe organisieren: in der regionalen Auswahlsitzung Eckernförde des nationalen Auswahlprozesses.
Das bedeutet: vier Tage mit 160 Jugendlichen und zahlrechen jungen Erwachsenen gemeinsam, die als „Organizers“ „Chairs“ oder „Journalists“ die Session überhaupt erst möglich machen, im Schulgebäude der „freien Waldorfschule Eckernförde“ verbringen.
*Den Durchblick behalten*
Gerade jetzt sind wir leider schon am Ende der Auswahlsitzung angekommen. Es ist Sonntagvormittag und der letzte Teil der GA – der General Assembly – neigt sich so langsam seinem Ende zu. Für Außenstehende mag es vielleicht ein wenig schwierig sein, den Durchblick zu behalten, Bei all den Abkürzungen und Regeln, die verwendet und eingehalten werden ist es nicht immer ganz einfach den Debatten zu folgen, wenn man nicht selbst auf einem der Stühle im Landtag sitzt und sowohl die Abkürzungen und den Inhalt der Resolutionen, als auch das Verfahren samt aller Regeln inzwischen fast in- und auswendig kann. Denn wir sind in den letzten Tagen optimal auf diese Situation vorbereitet worden.
Nach dem Einchecken und einer allgemeinen Begrüßung am Donnerstag sammelten die Chairs, die für die inhaltliche Arbeit in den Komitees verantwortlich sind, erst einmal ihre Gruppen zusammen. Durch Teambuildingspiele lernte ich schnell die anderen zehn Mitglieder aus dem Komitee AGRI (COMMITTEE ON AGRICULTURE AND RURAL DEVELOPMENT) kennen, die aus allen Teilen Deutschlands kamen. Darüber hinaus hatten wir auch jeweils eine Gastdelegierte aus Finnland und Frankreich.
*Brainstorming, Fakten sammeln, Ideen ordnen*
Am Freitag ging es dann mit der wirklichen Arbeit los. Die Resolution musste innerhalb nur eines Arbeitstages erstellt werden. Brainstorming, Fakten sammeln, Ideen ordnen, formulieren, strukturieren – und vor allem debattieren – das war an diesem Tag angesagt. Nach langem Hin- und Herüberlegen, Ergänzungen und Veränderungen stand schließlich unsere Resolution, mit der alle Mitglieder unseres Komitees einverstanden waren.
Natürlich reicht aber ein einziger Tag nicht aus, um eine fundierte Resolution über ein Thema zu schreiben, über das man bisher vielleicht noch nie etwas gehört hat – folglich gab es auch bereits einiges zuvor zu Hause zu tun: Das „Preparation Kit“ durcharbeiten, sich durch alle möglichen Artikel lesen und Debatten anhören … auch schon zuvor sehr anstrengend, aber dafür umso interessanter! Dies ist auch direkt eine der Erfahrungen, die man beim EYP sammelt: sich mit Themen auseinander zu setzen, mit denen man zuvor noch nie etwas zu tun hatte. Dennoch merkt man sehr schnell: je mehr man sich in gerade dieses Thema einarbeitet, umso interessanter und vielseitiger ist es - vor allem merkt man auch, wie stark es uns all diese Themen doch auch in unserem täglichen Leben beeinflussen.
*Resolutionen diskutieren*
Samstagmorgens bekamen wir schließlich eine Sammlung der Resolutionen aller Komitees, denn jetzt mussten wir uns auf die Debatten in der General Assembly vorbereiten, in der alle Teilnehmer zusammenkommen und über die einzelnen Resolutionen diskutieren. Es hieß also: Antworten zurechtlegen auf Fragen, die zu unserer Resolution gestellt werden könnten, Schwachpunkte und Ungenauigkeiten anderer Resolutionen herausfinden, eigene Fragestellungen überlegen, defence speeches schreiben, attack speeches formulieren …. Die Zeit verging viel zu schnell, sodass viele von uns auch im Bus, der uns nach dem Mittagessen zum Landtag in Kiel brachte, weiter an ihren Reden schrieben, oder die Resolutionen der anderen durchstöberten.
*Hitzige Debatten über brandaktuelle Themen*
Inzwischen sind wir bei den brandaktuellen Verhandlungen der EU mit der Türkei angekommen. „Wir werden erpresst und haben keine Chance“, verteidigt eine Delegierte von „LIBE“ –dem „COMMITTEE ON CIVIL LIBERTIES, JUSTICE AND HOME AFFAIRS“ den letzten Operative Clause ihrer Resolution. Fünf Komiteekarten werden gleichzeitig in die Höhe gestreckt – fünf Komitees wollen mithilfe ihrer „direct response“ sofort etwas darauf erwidern. Unser Komitee AGRI wird aufgerufen und nach einer kurzen Absprache antwortet einer meiner Kollegen. Nun wird die direct response von IMCO I angehört. Die hitzige Debatte geht weiter.
*Freunde, Kulturen, Politik*
So wurden am Samstag die Resolutionen der Komitees AGRI, IMCO I, LIBE, ITRE besprochen. Am Sonntag waren nun ENVI, IMCO II, SEDE, REGI dran.
Jetzt sitze ich nach einer gelungenen Abschlussveranstaltung am Sonntagabend alleine auf dem Bahnsteig und warte auf den Zug, der mich über Nacht wieder nach Hause nach Karlsruhe bringen wird und gehe in Gedanken noch einmal die letzten Tage durch: Als ich mich vor drei Tagen auf den Weg von Karlsruhe nach Eckernförde gemacht hatte, wusste ich nicht, was mich erwartet. Doch, was dieses EYP beinhaltet, hat mich wirklich mehr begeistert, als alles, was ich hätte erwarten können: Noch vor 48 Stunden wusste ich noch nicht einmal, wie eine General Assembly funktioniert, und was es eigentlich tatsächlich mit dem EYP auf sich hat. Nun habe ich es tatsächlich geschafft, die Jury zu überzeugen und in die nächste Runde des nationalen Auswahlprozesses zu kommen. Doch darum geht es überhaupt nicht vordergründig. Freunde aus der ganzen Welt finden, und sich dabei mit den Kulturen anderer Länder vertraut machen, Meinungen austauschen, ganz viel Wissen über aktuelle Politik vermittelt bekommen und all das auf Englisch – das ist das Wichtigste des EYP – und darüber hinaus noch: ganz viel Spaß haben!
*Spannendes Freizeitprogramm*
Dies gelang neben den politischen Debatten auch beim Rahmenprogramm wie bei der Open Stage, die durch die Teilnehmer mit Musik und Gedichten gefüllt worden war, gekrönt vom schuleigenen Zirkus der freien Waldorfschule Eckernförde. Eine Tour am nächsten Abend, während der sich die sehr schöne kleine Touristenstadt kennenlernen ließ, um bei dem schönen Wetter nicht nur die ganze Zeit herum zu sitzen, sondern auch mitzubekommen, was eigentlich vor den Fenstern auf einen wartet, eine Eurovillage mit einem Buffet aus vielen verschiedenen nationalen Spezialitäten und eine Fairwellparty die am letzten Abend das gesamte Programm abrundete. Auch die zahlreichen Bilder und die netten Videos, die vom Journalistenteam, dessen Mitglieder nach den ersten Stunden nur noch liebevoll „Paparazzis“ genannt wurden, gemacht und angefertigt wurden, sorgten immer wieder für witzige Erfahrungen und eine gute Stimmung. An Schlafen war relativ wenig zu denken – dafür war einfach das Programm zu gut!
*Vorsicht Suchtgefahr ;-)*
Doch selbst die Vielfalt in nur einzigen EYP Session wird zusätzlich dadurch getoppt, dass der nationale Auswahlwettbewerb nur einen winzigen Bruchteil all dessen ausmacht, was das EYP alles beinhaltet. Es gibt die Möglichkeit ganz unabhängig von diesem an vielen weiteren Sessions in Deutschland, aber auch in anderen Ländern als Delegierter teilzunehmen. Daneben kann man sich auch als Journalist, Organizer, oder Chair engagieren, sodass es in vielen Jahren EYP, die hoffentlich noch vor mir liegen, sicherlich auch nicht langweilig wird. Der einzige Nachteil des EYP – man läuft Gefahr, am Ende der Session der PED – der Post-EYP-Depression zu verfallen. Die Vorfreude auf die nächsten Veranstaltungen kann da als Medikament wenigstens einigermaßen gut Abhilfe schaffen.
Autorin / Autor: Lilith - Stand: 26. April 2016