Den nächsten Halt auf der Strecke machen wir in Gjesuaer. Das Gebiet, das auf derselben geographischen Höhe liegt wie das Nordkap lässt erneut das Herz unserer Flora, Fauna, Klimagruppe schneller schlagen. Es wird von zahlreichen Vögeln, darunter Arten wie der Sturmvogel oder der Tölkel, als Nistplatz genutzt, wird als Lebensraum aber auch von Säugetieren wie der Kegelrobbe und dem Otter genutzt. Während das besagte Team die Vegetation und die hier lebenden Tiere bestaunt, sammeln die anderen fleißig Antworten zu ihren Umfragen. Dies ist unser letzter ganzer Tag in Norwegen, sodass wir heute umso intensiver an die Arbeit gehen.
Kaum sind wir alle eingestiegen und wieder losgefahren, müssen wir auch schon wieder bremsen. Rentiere versperren uns den Weg. Als sie bemerken, dass ein Fahrzeug naht, teilt sich ihre Gruppe. Ein paar gehen auf die rechte Seite, einige weichen auf die linke aus und ein einsames Rentier läuft stur mitten auf der Fahrbahn weiter. Rechts wird nun ein Rentiernachwuchs gesichtet, sodass die Schrittgeschwindigkeit, die uns das auf der Fahrbahn verbliebene Tier aufzwingt, sowieso angemessen ist. Sofort rennt alles, was eine Kamera zur Hand hat, an die rechte Fensterscheibe, um das davonrennende Junge mit seiner Mutter auf der Speicherkarte festzuhalten.
Wenig später sitzen alle wieder angeschnallt auf ihren Plätzen, doch das schneeweiße Rentier vor dem Bus möchte einfach nicht weichen. Wir geben ein bisschen mehr Gas. Schließlich gibt es nach, bewegt sich ein wenig nach rechts und wir können auf der linken Seite überholen. Rentiere begegnen uns noch ein paar Mal auf unserer Fahrt, ansonsten verläuft die kurvige Strecke jedoch ruhig. Nach einem ausnahmsweise sehr frühen Abendessen um 18 Uhr fahren wir schließlich zum Endziel des heutigen Tages – das Nordkap.
*Der nördlichste Punkt Europas*
Schnee wirbelt auf der trapezförmigen Leinwand auf. Die Landschaftsaufnahmen ziehen von links nach rechts an uns vorbei und wir sind froh, nicht im Winter hergekommen zu sein. Trotz der idyllischen Stimmung, die die weiße Schneedecke hervorruft, kann man sich doch vorstellen, wie warm man sich tatsächlich einpacken muss, um in dieser Jahreszeit hier nicht zu erfrieren. Wir jedoch sitzen im Warmen, während wir im Bauch des Nordkapzentrums den Vorstellungsfilm des Gebiets verfolgen. Der Mann auf der Leinwand steigt in sein Boot und kehrt die dicke Schneeschicht von Deck, bevor er zum frühmorgendlichen Fischen ablegt. Auch wir stehen auf, als der Abspann kommt und wollen nun endlich das Nordkap nicht nur visuell erleben, sondern tatsächlich mit eigenen Füßen betreten.
Endlich stehen wir vor der stählernen Weltkugel am nördlichsten Punkt Europas, 71°10‘21‘‘N, so fühlt es sich auch an. Der Wind macht das Atmen und auch das Unterhalten schwer und bereits nach wenigen Minuten hat ein Großteil von uns halb erfrorene Hände und eine rote Nase. Nach ein paar Fotos und Filmen flüchten wir uns ins warme Innere. Aufwärmen ist jetzt angesagt, denn das Posen im kurzärmlichen Master-Mint-T-Shirt hat doch länger gedauert als erwartet. Und auch im Inneren gibt es genug zu sehen. Ein Thai-Museum, eine Kapelle, eine Lichtershow und zahlreiche Informationswände und Videos laden zum längeren Verbleib im Gebäude ein.
*Doch was ist überhaupt das beeindruckende am Nordkap?*
Aufgrund der Neigung der Erdachse um 23,5° gegen die Senkrechte, die Schiefe der Ekliptik, und der Umlaufbahn der Erde um die Sonne in 365,25 Tagen, kommt es dazu, dass es an den Polarkreisen einmal im Jahr keine Nacht und einmal im Jahr keinen Tag gibt. Sprich, die Sonne geht entweder erst gar nicht auf, oder nicht unter. Am nördlichen Polarkreis, der bei 66°33‘ liegt, ist dies am 21. Juni der Fall. Mitternachtssonne wird dieses Ereignis genannt. Hier am Nordkap, der noch ein Stück weiter nördlich liegt, finden diese besonderen Zustände nicht nur an jeweils einem Tag im Jahr statt, sondern sind entsprechend ihrer stärker nördlichen Lage verlängert. 77 Tage lang, vom 15.Mai bis zum 31. Juli geht hier am Nordkap die Sonne nicht unter. Wir hatten unsere Ankunftszeit also perfekt geplant, um dieses Spektakel mitzuerleben. Aber selbst in der Dunkelperiode vom 19. November bis zum 23. Januar lohnt es sich, das Besucherzentrum aufzusuchen, denn in dieser Zeit lassen sich in der Dunkelheit die farbigen Nordlichter, aurora borealis besonders gut bewundern.
Aber nicht nur Naturspektakel und wissenschaftliche Erklärungen lassen sich am Nordkap finden. Auch für die Kunstbegeisterten ist gesorgt. Bereits 1988 fasste die Kunstidee „Kinder der Welt“ von Simon Flem Devold hier am Nordkap Fuß. Bei diesem Projekt wurden 7 Kinder aus der ganzen Welt zufällig herausgesucht, die an das Nordkap angeflogen wurden und frei Kunstwerke kreierten, die dort nun in großem Format zu bestaunen sind.
Neben Menschen genießen hier auch Ungeheuer und Monster die schönen Kunstwerke inmitten der Natur. Das wurde zumindest früher vermutet, als die Gebiete noch weitgehend unerforscht waren. Heutzutage ist jedoch nur noch von Trollen die Rede. Die kleinen buckligen Wesen mit ihren langen Nasen und den vielen Wanzen im Gesicht haben ihre Namen aus dem Nordgermanischen. Denn das Wort Troll heißt übersetzt so viel wie „Naturwesen“. Durch die nordische Mythologie sind sie in Schweden, Dänemark und Norwegen bekannt und es gibt zahlreiche Geschichten, die sich um die kleinen Fantasiefiguren ranken. Dass sie zum Kultsymbol Norwegens geworden sind, lässt sich in wirklich jedem Souvenirshop erkennen – sie stehen für die unberührte Natur und das freie Leben in ihrem Land.
Nachdem wir auch mit den Trollen genug Fotomaterial erzeugt und kurz vorm Einsteigen nochmals überprüft haben, ob auch niemand von dem starken Wind weggeweht worden ist, kehren wir ins Hotel zurück, um dort noch unsere Präsentationen des heutigen Tages zu halten. Wachbleiben fällt uns auch heute nicht schwer, denn glücklicherweise fällt der 3. Juni in die 77 Tage Periode, in der am Nordkap die Sonne nicht untergeht.