Trügerische Erinnerungen
Studie untersuchte, wie sich Deutschland an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert
© Stiftung EVZ/Foto: Peter Wentzel
Vor nicht allzu langer Zeit forderten Politiker_innen der AfD, es solle doch endlich Schluss sein mit der Erinnerungskultur an die Verbrechen und die Opfer der NS-Zeit, wörtlich: man solle den „Kult mit der Schuld“ beenden, denn schließlich sei die Aufarbeitung der NS-Zeit abgeschlossen. Doch ist sie das wirklich? Kann sie das jemals sein? An was erinnern sich die Menschen noch? Und wie erinnern sie sich? Das war das Thema einer repräsentativen Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld mit dem Titel „MEMO Deutschland – Multidimensionaler Erinnerungsmonitor“, die von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gefördert wurde. Am 13. Februar wurden die Ergebnisse vorgestellt.
In ihren Telefoninterviews hatten die Forschenden über 1.000 Personen nach deren Meinung über Täter, Opfer und Helfer während des Zweiten Weltkriegs gefragt. Heraus kam, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nach wie vor sehr von Familiengeschichten geprägt ist, und dass in diesen Erzählungen die Anzahl der Täter genauso groß ist wie die Anzahl der Helfer. Obwohl eine Vielzahl der Deutschen sich nachweislich im NS-System schuldig gemacht haben - auch wenn sie "nur" Mitläufer waren - bejahen nur 17,6 % der in der Studie Befragten, dass unter ihren Vorfahren Täter des Zweiten Weltkriegs waren. Ungefähr ebenso viele Personen (18 %) gaben sogar an, ihre Vorfahren hätten in dieser Zeit potentiellen Opfern geholfen. Etwas mehr als die Hälfte der Interviewten (54,4 %) berichtet sogar schließlich, unter den Verwandten Opfer des Zweiten Weltkriegs zu haben.
„Es hat uns vor allem interessiert, was, warum und wie Menschen in Deutschland Geschichte erinnern. Ein besonderer Blick war auf die Erinnerung an den Holocaust gerichtet, denn angesichts von Antisemitismus und Versuchen, Themen wie die Kriegsschuld für Propagandazwecke zu missbrauchen, steht Erinnerungskultur infrage“, so Professor Dr. Andreas Zick, Direktor des IKG und Leiter der Studie.
*Großes Interesse an deutscher Geschichte*
Das Ergebnis der Befragung überrascht, denn weit über die Hälfte der Befragten interessiert sich für die deutsche Geschichte eher stark (32,5 %) oder sogar sehr stark (27,7 %). Auch, dass Schüler_innen Geschichtsunterricht haben, ist einer deutlichen Mehrheit sehr wichtig (79,2 %). Die Interviewten nennen als zwei der wichtigsten Gründe für Geschichtsunterricht, zu lernen, welchen Schaden Rassismus anrichten kann (sehr wichtig: 78,9 %) und zu verhindern, dass der Nationalsozialismus zurückkommt (sehr wichtig: 84,3 %). Die Befürchtung, dass sich etwas wie der Holocaust wiederholen könnte, ist unter den Befragten vorhanden. Knapp die Hälfte teilt diese Sorge eher (25,6 %) oder sogar stark (21,6 %).
*Besuch historischer Orte prägt am stärksten*
Über den Nationalsozialismus erfahren fast alle Interviewten in der Schule (98,4 %). Aber auch das Internet wird besonders bei jüngeren Befragten immer wichtiger: 94,3 % der unter 30-Jährigen setzen sich dort mit dem Thema auseinander. Diese Informationsquelle erleben aber viele gleichzeitig als wenig prägend. Ein Großteil der Interviewten besucht eher Gedenkstätten oder Mahnmale, die an die Vernichtung von Menschen durch den Nationalsozialismus erinnern. Nach Meinung der Befragten hinterlässt dies den stärksten bleibenden Eindruck.
Dr. Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung EVZ: „,MEMO Deutschland‘ bietet uns als Bestandsaufnahme die Möglichkeit, Narrative und Bedarfe unterschiedlicher Personengruppen festzustellen, um auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zu reagieren. Ziel der Stiftung EVZ ist es, eine lebendige Erinnerungskultur mit innovativen Formen und frischen Ansätzen zu schaffen. Wir sind auf dem Weg zur Gedenkstätte 4.0.“
Die Stiftung EVZ wurde im Jahr 2000 gegründet, um Zwangsarbeiter während der Zeit des Nationalsozialismus zu entschädigen. Seit 2001 leistet die Stiftung EVZ zudem humanitäre Hilfe für Überlebende, fördert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und stärkt zivilgesellschaftliches Engagement in Ost- und Mitteleuropa.
Quelle:
Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 15. Februar 2018