Das schraubenverlierende Etwas
Mein Fahrrad & ich
Seit Wochen – nein, vermutlich eher seit Monaten – fasse ich zweimal täglich um eine annähernd gleiche Uhrzeit den Entschluss, *heute* doch endlich einmal meine Fahrradkette zu ölen:
einmal morgens, kurz vor halb acht, wenn ich mich auf meinem quietschenden Zweirad über die Autobahnbrücke quäle, die sich zwischen mir und meiner derzeit besuchten Bildungseinrichtung erstreckt, und einmal auf dem Rückweg, so zwischen 2 und 3 Uhr, wo ich dann zusätzlich auch noch im Zickzack um diverse Nacktschneckenkadaver lenken muss, die am Morgen alle nochfleißigumhergeschneckt waren. Und nun aber von irgendwelchen rasenden-brutal-gewalttätigen Radfahren getötet worden sind, da *die* ja nicht auf einem rostigen, bröselnden, schraubenverlierenden Etwas die Brücke hinauf- und hinunterklappern müssen.
Alte Liebe...
Mein Fahrrad, vor 2 Jahren noch mein ganzer Stolz, hat unter der verbrachten Zeit mit mir sehr gelitten – nicht, dass es seine schwarzen, metallic-blauen und alufarbenen Freunde aus der Herrenradabteilung unbedingt vermissen würde, nein, mit dem anthrazit-Federgabel-neongelb-„Fischer“-Rad meiner Schwester scheint es ganz gut auszukommen, auch das alte Kettlerbike meines Vaters und das lila-grüne Damenfahrrad meiner Mutter sind ihm bestimmt eine würdige und angenehme Gesellschaft. Doch mit der Zeit wurde ich *vermehrt* darauf hingewiesen - ja, sei hiermit aufs Herzlichste gegrüßt, Willi - dass mein Fahrrad bestimmt tiefe psychische, wenn nicht gar sich psychosomatisch auswirkende Probleme mit seiner Umwelt habe, daher manchmal ein wenig kontaktscheu sei, Probleme hätte, auf die Menschen zuzugehen, vermutlich eine es sanfter führende Hand bräuchte, leider ab und zu auch mit seiner 18-Gang-Shimano-Gangschaltung, dem Gelsattel oder der Halogenhinterlampe anzugeben versuchte - in seinem Innersten aber ein tief sensibles Wesen sei, das doch eigentlich nur geliebt werden will.
...rostet nicht?
Ab ungefähr diesem Zeitpunkt begann der äußerliche und innerliche Verfall dieses meines Prunkstückes; im Nachhinein weiß ich nicht, wer zuerst anfing, wen zu ärgern – ich oder das Fahrrad? Tja, das Huhn-Ei-Prinzip? Ich war jedenfalls felsenfest davon überzeugt, im Recht zu sein, mich für alles rächen zu dürfen, was es mir antat. Die täglichen Schlammverkrustungen und fiesen Spritzer an meiner Kleidung – trotz des Schutzblechs – konnte ich noch gut verkraften, als Einzelfälle durchweg verzeihlich, aber die Folgen: ständig Hosen zu bürsten und ein Fahrrad putzen zu müssen, das doch zum Fahren und nicht zum Saubersein da war (wozu hatte ich extra auf ein City Bike Off Road bestanden?), zehrten gehörig an meinen Nerven. Ebenso wie die Kollisionen mit rostigen Gartenzäunen, wovon meine rechte Hand jetzt noch Wundmale trägt. Erloschen war die Glut meiner Zuneigung allerdings erst, als mein Fahrrad zu stänkern begann, mich über eine Baumwurzel nach der anderen warf, mich in einer riesigen Schlammpfütze mit so gut wie neuen Schuhen stecken ließ, sich in den Profilreifen eine Scherbe einfuhr und zu guter Letzt auch während der Fahrt den Lenker des violetten „Wild Eagle“ meiner besten Freundin anschubste, so dass diese ihren Sattel mit einem sportlichem Salto vorwärts verließ.(Hier muss angefügt werden, dass dies unserer Freundschaft keinen Abbruch tat, die gemeinsam erlebte Greueltat schweißte uns nur noch mehr zusammen.)
Rostet nicht!
Nach und nach wurde ich gleichgültiger gegenüber dieser Konstruktion aus Metall, Speichen und Klingel: ich wusch nichts mehr, ölte nichts mehr, zog keine Schrauben nach, trieb es jeden Morgen und Nachmittag die Autobahnbrücke hinauf und hinunter, überfuhr Bordsteinkanten und übersah rote Ampeln. „In einem gesundem Rahmen ruht ein gesunder Geist“ hatte inhaltlich ein alter Grieche (einer anderen Quelle nach war es Turnvater Jahn) gesagt, demnach verlotterte es wohl auch innerlich – gesprochen hatte es sowieso schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit mir. Ich muss zugeben, dass ich mein Fahrrad oft absichtlich nicht mehr anschloss und wirklich nichts gegen ein altes aber funktionierendes (Ost-)Damenrad ohne Gänge gehabt hätte. Doch irgendwann endete es - wie alles irgendwann - sozusagen in einer rostigen, ungeölten Apokalypse - beim örtlichen Fahrradhändler. Der ohne Charaktere wie mich und mein Fahrrad wohl nur noch Trinkflaschen und Fahrradcapes verkauft (benutzt die Dinger eigentlich wirklich jemand? -bitte melden!) und sicher irgendwann wegen chronischem Umsatzmangel auf Versicherungsvertreter umsatteln muss. Vorgestern jedoch habe ich mein glänzendes, repariertes, geöltes Fahrrad für 148,30 DM (!) wieder abgeholt und dabei dann bemerkt, wie sehr es mir doch trotz allem gefehlt hatte.
Autorin / Autor:
Kamikatze, 15 Jahre - Stand: 9. November 2001