Die Zukunft der Zukunft
Beitrag von Vanessa Köch, 24 Jahre
„Lukas, hast du schon wieder vergessen Susi aufzuladen? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du damit dein Rating gefährdest!“ Lukas guckt für den Bruchteil einer Sekunde schuldbewusst zu Boden. Er weiß, welche verheerenden Konsequenzen seine Unachtsamkeit haben kann. Seitdem die internationale Arbeiterpartei diese Tests eingeführt hat, kann er kaum ruhig schlafen.
Er sprintet zu seiner elektronischen Katze und startet die Stromzufuhr.
Erleichterung. Susi beginnt mechanisch zu schnurren und sofort startet die Übermittlung der Daten an die zentrale Verwaltung des Rates für den Arbeiternachwuchs mit Förderungspotential.
Daraufhin greift er in seine Tasche und holt einen schwarzen, beinahe leeren Filzstift aus der Tasche, den er vor etlichen Jahren in Omas Schreibtischlade gefunden hat. Lukas beginnt damit auf seinen Arm zu schreiben: „Schlüsselkompetenzen“. In großen fetten Lettern soll es dort stehen und ihn ständig an seine Pflichten erinnern, damit ihm solche Fehler nicht mehr passieren.
Mama sagt, die Arbeiterpartei wolle nur die Besten der Besten fördern. Nur Menschen, welche beweisen können, dass diese die notwendigen Kompetenzen wie etwa Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit besitzen, werden eine Chance auf eine sichere Zukunft haben.
Papa sagt, Lukas habe jetzt Verantwortung. Er sei für die finanzielle Absicherung der Familie zuständig. Papa sagt auch, dass die Zeiten immer härter würden. Viele seiner Freunde hätten ihre Arbeitsplätze schon verloren. Er sagt, das liege wohl an ihren fehlenden Fähigkeiten. „Nur wenn du etwas kannst, was ein Roboter nicht kann, kannst du wirklich was“. Diesen Satz wiederholt Lukas seit seinem 7. Geburtstag tagtäglich. Und das ist inzwischen schon fast ein Jahr her. Er will sich beweisen. Mama und Papa sollen stolz auf ihn sein. Er wird der Arbeiterpartei schon noch zeigen, dass seine Schlüsselkompetenzen hervorragend sind und einer der wenigen sein, die niemals ersetzt werden können. Dafür wird er sich anstrengen
„Du brauchst dir keine Sorgen machen, Mama. Susi war noch gar nicht vollständig entladen. Mein Rating liegt immer noch bei über 90 Prozent.“
Mama streichelt ihm über sein kurzes blondes Haar. „Mein Schatz, das ist gut. Trotzdem musst du dich noch mehr anstrengen. Der Screen hat mir angezeigt, dass Cornelius‘ Score schon bei 95 Prozent liegt. Stell dir vor, Cornelius würde später einen Arbeitsplatz bekommen und du nicht. Dann könntet ihr euch nie wiedersehen und wir müssten draußen im R-Viertel wohnen. Das willst du doch nicht oder?“
Nein. Das wäre schrecklich. Lukas war erst einmal im R-Viertel. Die Bilder wird er nie vergessen. Überall liegen alte Roboterteile und die Menschen schlafen inmitten von kaputten Kabeln. Als er gestern mit Cornelius auf dem Schaukel-Tec-Pferd gespielt hat, machte dieser ihm Angst. „Ich glaube im R-Viertel werden nicht unnütze Roboterteile aussortiert, sondern unnütze Menschen.“ Genau das hat Cornelius gesagt und dann gelacht. Aber Lukas kann darüber nicht lachen. Sein Rating liegt schließlich nicht bei 95 Prozent.
Er streichelt Susi. Für regelmäßiges Streicheln gibt es am Tag zwei von 100 möglichen Punkten. So ganz versteht er nicht, was Streicheln mit seinem späteren Arbeitsplatz zu tun haben könnte, aber wenn er jemanden danach fragt, hört er immer nur „Schlüsselkompetenzen“.
*15 Jahre später*
Er streichelt Susi. Den elektronischen Chip musste er ihr entfernen, damit keine Daten mehr an die Zentralen gesendet werden. Auch, wenn Susi nicht atmet und frisst, er kann nicht von ihr lassen. Fürsorge, so denkt er, habe ich wirklich erlernt. Nur für wen er diese Fähigkeiten einsetze, das lasse er sich nie wieder diktieren.
Inzwischen arbeitet Lukas im R-Viertel. Es ist gar nicht so schrecklich, wie er immer dachte. Es ist nur anders. Er hat hier Dinge entdeckt, für die er früher nie Zeit hatte. Er ist kreativ geworden, heute hat er gezeichnet. Seine Familie ist arm, das stimmt. Das kann seine Schuld sein, möglicherweise. Doch trotzdessen fühlt er sich frei. Auf einem alten Systemcomputer hat er gestern gespeicherte Literatur wiederherstellen können.
Dabei fand er ein Ökonomie-Buch von Kate Raworth. „Eine Wirtschaft, die den Menschen nützt – unabhängig davon ob sie wächst oder nicht“, stand dort geschrieben. Das hat ihn nachdenklich gemacht. Wie konnte daraus innerhalb weniger Jahre das Leitbild „Eine Wirtschaft. Unabhängig davon ob es Menschen gibt oder nicht“ entstehen? Er will etwas ändern. Arbeit soll wieder greifbar sein.
Roboter sollen nicht nur dahingehend entwickelt werden, dass diese mehr Zeit für den Menschen herauswirtschaften, nur damit dieser wiederrum mehr Zeit in die Entwicklung von Robotern stecken kann.
Lächelnd muss er an seine Schlüsselkompetenzen denken. Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit sind in ihm verankert worden. Nur weiß er heute auch, wofür er diese braucht. Durch plötzlich in ungeheurer Intensität auftretenden Optimismus beflügelt, nimmt er seine Werkzeuge in die Hand und beginnt mit seiner Arbeit. Ein schönes Zuhause für sich und seine Familie will er bauen. Eine Arbeit, bei der er nicht nur ein kleines vorprogrammiertes Rädchen darstellt. Er will das Rad sein, er will das Ergebnis und seine direkte positive Auswirkung auf seine Umgebung spüren können.
Heute beginnt die Zukunft der Zukunft, lächelt er in sich hinein.
Susi
Schaukel-Tec-Pferd.
Die Zukunft der Zukunft.
Alle Einsendungen zum Schreibwettbewerb
Autorin / Autor: Bilder und Text: Vanessa Köch, 24 Jahre