Er und die Anderen
*ER* und *SIE*. Die Anderen. Nacht. Dunkel. Leise Schritte. Zwei Augen. Kleine Augen von kleinem Mensch. Ein kleiner Mensch, schwarz wie die Nacht. Augen bewegen sich nervös von einer Seite zur anderen, wollen eine ruhige Ecke finden, finden sie aber nicht.
Wieso ist es genau heute passiert...?
Er hat Angst. Er könnte schon seit zwei, drei Stunden warm zu Hause sitzen, wenn er sich nicht verlaufen hätte, in diesen engen und dunklen Berliner Strassen.
Wieso ist es genau heute passiert, wo meine Mutter ins Krankenhaus gekommen ist? Wieso hat sie ihre Medikamente vergessen und wieso genau wollte ich sie ihr bringen, und nicht meine größeren Brüder und Schwestern? *Na ja, überlebe schon irgendwie, ich muss nur jemanden finden und fragen, wie ich jetzt nach Hause komme.* O.K. Ich bin schon ganz ruhig, ich atme gleichmäßig. Oh. Drüben. Ich höre schon leise Stimmen. Jetzt frage ich und gehe nach Hause. Stimmen werden lauter, Schritte auch. Sie stehen da und haben nichts zu tun. *Sie warten auf irgendetwas, nur wissen sie selbst nicht worauf.*
Aber es muss was passieren.
Sie stehen weiter. Er kommt aus der Ecke. Er hat sie gesehen. Will zu ihnen gehen, aber auf einmal stoppt er. Sie drehen sich um. Er, voll schwarz wie das Dunkel, macht kleine Schritte zurück. Sie, mit den glänzenden Köpfen, werfen ein Blick auf ihn und ihre Augen leuchten wie Feuerwerke wegen kommender Gedanken. Sein heißes afrikanisches Herz schlägt super schnell. Er denkt und überlegt, wie er wegkommt. *Nun versteht er schon, dass es zu spät ist.* Das ist es, wovor er Angst hatte. Seine größere Schwester war damals 10, als ihre genauso schwarze Freundin von denen geschlagen wurde, nach einem Monat waren alle Verletzungen weg, aber die Erinnerungen sind immer noch in den dunklen Ecken des Kopfes. Jetzt ist er auch zehn. *Er wird das ganze Leben fürchtend auf der Strasse gehen, wenn ihm jetzt was passiert.* Er ist genauso wie die anderen weißen Leute in Deutschland geboren. Sein Haut hat halt eine andere Farbe, sie ist schwarz. Aber er ist so und ist stolz darauf, anders zu sein. „Hast du dich verlaufen, kleines Stück Scheiße, oder bist du extra zu uns gekommen?“
Drei oder fünf, sieben oder acht, mehr oder weniger, sie sind viele.
Langsam bilden sie einen Kreis um den Jungen herum. Sie sehen alle gleich aus. Sie lachen und machen schreckliche Gesichter. Er guckt mit seine großen Augen auf sie und kriegt keine Luft mehr wegen der Angst, die von Sekunde zu Sekunde größer wird. Der Kreis um ihn wird enger. Er kann nicht mehr. Er weiß, dass er gleich auf dem Boden liegen wird. *Tot oder Leben spielt jetzt keine Rolle.* Es wird enger und enger. Ihre Nasen schnarchen. In ihren Händen blitzt was. Sein Kopf dreht sich. Er guckt von einem lächelnden Gesicht zum anderen. Ihm wird heiß, kalter Schweiß wird zum Fluss. Sein ganzer Körper hört sein Herz. Sie sind schon ganz nah. Sie berühren ihn, nehmen hoch, schmeißen runter. Lachen über ihn. Er ist schon auf den Boden, Geräusche werden lauter und lauter. Bamm, in sein Gesicht. Blutgeschmack und Lachen. Bazz, in seinen Bauch. Blut mischt sich mit den Tränen. Er kann nicht mehr klar denken. Sein Kopf dreht sich und er fragt sich selbst: "Warum schlagen sie mich?" *"Werden sie dadurch stärker, wenn sie einem kleinen Jungen weh tun"?* Sehr weh tun! Sie haben dabei Spaß, denken aber nicht nach, was das für den Jungen bedeutet, den Jungen, den sie schlagen. Es ist sowieso unmöglich, alle Ausländer zu töten. Oder es gibt Krieg, aber dann sterben auch ihre Geschwister, Verwandten, Freunde. Vielleicht sterbe ich heute durch Nazis, ich sterbe eh' irgendwann.
Einen Tag früher oder später.
Vielleicht werde ich von einem Auto überfahren oder von Hunden in zwanzig Stücke zersplittert, aber das ist besser als durch Nazis zu sterben. Schade, dass man es nicht wählen darf, wie man stirbt. Das waren seine letzte Gedanken. Er hatte nie mehr Gedanken. ER war tot. *"Ein Junge von Nazis zu Tode geschlagen!"* *"Ein kleines schwarzes Kind tot. Nazi verhaftet!"* Zeitung, Fernseher, Interview. Ein, zwei Wochen. Wie ein Sturm, wie ein Tornado. Alle reden darüber. Und danach Ruhe. In einer anderen Stadt wird sich immer wieder die gleiche Geschichte wiederholen. Vielleicht ohne Tote, vielleicht ohne Nazis. Es passiert. Dann, ein paar Wochen, dreht sich alles drum herum. *Und plötzlich kein Wort mehr darüber.* Vergessen, vergangen. Nur seine Familie wird sich immer wieder erinnern, weinen und in ihren Herz wird immer ein Platz sein, wo er weiterleben wird.
Alissa.
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Autorin / Autor: Alissa - Stand: 23. Juli 2001