„Sie machen das sehr gut, Frau Opper, ruhig einatmen, ausatmen und dann nochmal konzentrieren. Ich weiß, es ist anstrengend und Sie sind erschöpft. Nochmal alle Kräfte mobilisieren, sie tun das hier nicht für sich!“
Ich befolgte meinen eigenen Ratschlag und atmete einmal tief durch. Meine kleinen Zehen drückten eine neue Beule in meine Schuhe und taten ihren Protest gegen den bisherigen Mangel an Platz lautstark kund. Wenn es wie jetzt ganz still war, glaubte ich fast, das Pochen und schabende Wundreiben der kleinen Glieder zu hören. Na vielen Dank auch, Evolution. Letztens hatten wir einen Betriebsausflug gemacht, hatten ein Museum besichtigt. Sehr historisch. Damals, als man noch kleine Metallgeräte mit sich herumgetragen hatte, hatte es Videos auf Bildschirmen gegeben. Gestellt von einem dieser Anbieter, dem mit dem roten Logo. Dort hatten wir einen Bericht über die kommende Entwicklung der Menschheit gesehen. Kaum zu glauben, dass sich bei all dem Irrglauben der Menschen überhaupt etwas zum Positiven entwickelt hatte. Meine Zehen gehörten leider nicht dazu, die standen genauso unangenehm und unschön ab, wie angeblich auch die meiner Ahnen im letzten Jahrhundert. Ein Grund mehr, diese Farce hier zu beenden und in den Feierabend zu starten. Zunächst musste ich mich allerdings um die ebenso blonde wie blöde Frau Opper bemühen, die einfach nicht vorankam. So schwer war das auch nicht – fand ich. Heute. Vor drei Jahren, als ich die Ausbildung beendet hatte, hatte ich auch Blut und Wasser geschwitzt, wie es Frau Opper nun tat. Wie auch immer, man konnte alles erlernen. So auch die Handschrift.
Man – in diesem Falle die Geschichtsliteratur in der Ausbildung – sagte, dass vor langer Zeit Kommunikation nur über handschriftliche Nachrichten vonstattengegangen war. Undenkbar! Hier ließ sich jeder nach der Geburt einen Chip einpflanzen, der uns von LIVE-Gesprächen, LIVE-Events über LIVE-Treffen zu LIVE-Erlebnissen jeglicher Art alles ermöglichte. Schriften? Die wurden abgeschafft, wer brauchte das schon? Papier belastete die Umwelt, war unhygienisch und einfach veraltet. „Sowas von 2117“ würde meine Tochter wohl sagen. Buchstaben gab es nicht mehr, es gab einfache Emojis in der Kommunikation und der Rest funktionierte über Stimme und Gedanken. Niemand hätte hier die Zeit für unnütze Dinge wie Schrift. Wie viel Energie hatten die Menschen damals nur verschwendet?! Rechtschreibreformen, Schriftreformen, Stiftnormreformen – alles ineffizient und unproduktiv. Heute gab es ja LIVE-Chips. Nachdem diese von einem amerikanischen Dienst, der von einem russischen Dienst verraten worden war (oder war es andersherum gewesen?), gehackt worden waren, hatte der Bundeskanzler die geheime Rückkehr der Schriften befohlen, um sensible Daten künftig nicht länger in der LIVE-Cloud aufbewahren zu müssen. Da kam ich ins Spiel. Studiert hatte ich ursprünglich Medienhistorie, hatte aufgrund überzeugender Argumente zur Graphologie umgeschult und lehrte nun die NDS, die Neue Deutsche Schrift, in der die vertraulichsten Unterlagen und Papiere verfasst und festgehalten wurden. Meist tat ich das auch gerne, nur Frau Opper trieb mich zur Verzweiflung. „Das hier müsste ein ‚o‘ sein, kein ‚a‘!“, berichtigte ich sie schnell, „Wenn Sie den Bindebogen etwas höher ansetzen, ist es offensichtlicher.“ Und richtig. Aber das wollte ich ihr nicht sagen, dafür hatte ich heute zu oft aufmunternde und lobende Worte finden müssen. Ich war kein lobender Mensch, das brauchte ich nicht. „Ihr ‚l‘ sieht aus wie ein ‚t‘.“ Nicht, dass sie versehentlich ganze Codes zunichtemachte, nur, weil sie nicht richtig schreiben konnte.
Zugegebenermaßen hatte ich auch keine Schönschrift. Ich schrieb allerdings schön genug, um die betriebsinternen Weihnachtskarten schreiben zu dürfen. Dieser Tag, an dem ich nach Beendigung der Aufgabe und nicht nach Beendigung der Arbeitszeit nach Hause gehen durfte, vor allem aber keine Schüler wie Frau Opper hatte, war das Highlight des Jahres. Gut, dass ich nicht Lehrer geworden war. Wenn ich nur an die Arbeitsmoral meiner Kinder dachte – da brauchte man wirklich Nerven aus Stahl. Aber heute hatten sowohl Kind 1 (Tochter, 13, in der Pubertät gefangen), als auch Kind 2 (Sohn, 11, hoffentlich nicht schon wieder mit Fußballabdruck im Gesicht aus der Schule gekommen) ihre Hausarbeiten abgegeben und sich damit eine Belohnung verdient. Den Popcornmais hatte ich schon eingekauft zu Hause. In meinem Gesichtsfeld poppte ein Hologramm meiner Tochter auf. „Zwei Burger und einmal die gebratenen Nudeln bitte. Aber nicht die aus der Innenstadt! Die sind e-kel-haft!“ Wenn man von den Engelchen sprach – dachte. „Okay“, sendete ich zurück und blinzelte einmal, um den Chip in den Hintergrund zu bringen. Nicht jedoch, ohne vorher ein Memo zu erstellen, das mich an den Auftrag, das versprochene Essen mitzubringen, erinnern würde. Ich ließ mir die Uhrzeit einblenden: „Endspurt, Frau Opper! Jetzt schreiben Sie einfach das Alphabet nochmal auf und dann haben Sie es für heute geschafft!“ Und ich auch. Noch zehn Minuten bis zum Feierabend, bis ich meine Füße reanimieren und zumindest für einige Stunden den Alltagswahnsinn vergessen konnte. Die Schrift abzuschaffen war vielleicht nicht die schlechteste Idee gewesen, mich zum Wiederaufgreifen einzusetzen dagegen… Und doch wusste ich, dass ich morgen Morgen wieder mit einer ehrlichen Motivation aufstehen und morgen Abend mit einer ebenso ehrlichen Resignation ins Bett gehen würde. Wie so oft. Wie in jedem Beruf. Auch in dem, einer Graphologin im Regierungsdienst.