Es ist sicherlich schon September des Jahres 2042, aber das ist egal geworden. Konzentriert blicke ich auf das kleine Stück Holz, welches ich fest in meiner linken Hand halte. Vorsichtig schnitze ich mit meinem Taschenmesser eine neue Figur für meine Sammlung. Ich gebe dem Holz gerade einen abgemagerten Körperbau mit herausstehenden Rippen und mit hängenden Gesichtszügen. Eine verwahrloste Gestalt.
„Wir waren 5 auf der Flucht“, murmle ich vor mich hin, „und 4 stehen vor mir“.
Ich schaue still in die Runde. Ganz links sitzt Moritz, der Jüngste von uns allen. Ein ehemaliger Fensterreiniger, der schon früh ersetzt wurde, kommt mir dabei in den Sinn. Neben ihm Jona, mein bester Kamerad von allen. Seine Kochkünste und sein Talent, die Stimmung am Lagerfeuer zu heben, bewundere ich noch heute. Noah ist der Dritte. Der Zweifler unter uns, welcher nie einen Ausweg sieht.
„Na, nun schau mich an und du siehst, es ist nicht vorbei.“ schreie ich ihn an und grinse höhnisch, doch er bleibt regungslos.
Meine Stimme hallt zwischen den zahlreichen Bäumen umher und ich hoffe, dass sie keine Maschinensensoren erreicht. Ich berühre Noahs Arm mit meinen Fingern und streiche leicht über seine Jacke. Dabei wandert mein Blick zu Alex rüber.
„Hallo Herr Neunmalklug, kennst du mich noch?“
Sein Wissen über Industrie 5.1 ist so unglaublich groß, dass ich öfters daran zweifle, dass er nicht einer von ihnen ist. Er hat uns sein ganzes Wissen über die fortschrittlichen und intelligenten Maschinen erzählt, welche jede Arbeit innerhalb weniger Sekunden erlernten und auf Perfektion aus waren, so dass sie fast jeden Arbeitsplatz problemlos übernehmen konnten. Und so wurden auch wir eines Tages von einem dieser Unmenschen ersetzt.
Ich horche auf. Ein Geräusch hält mich davon ab, in der Vergangenheit zu wühlen und lässt mich die Gegend beobachten. Doch ich muss mich wohl geirrt haben. Mein jetziger Fluchtort vor den Maschinen scheint ihnen noch unbekannt und von einer friedlichen Atmosphäre umgeben. Die Grillen surren im hohen Gras, Vögel zwitschern freudig und allerlei Käferarten fliegen umher. Ich atme die frische Landluft ein und genieße das Gefühl der Freiheit, welches ich als seltene Abwechslung willkommen heiße.
Ich schnitze mit ruhiger Hand Mund, Nase, Ohren und einen ungepflegten Bart in das Holz und puste die Späne weg. Die Figur hat eine gekrümmte Haltung und blickt auf ihre zusammengefalteten Hände, als wenn sie beten würde.
Ich bringe das linke Ohr der Figur in die Nähe meines Mundes und flüstere ihr zu: „Alles Beten hat keinen Sinn mehr, aber das weißt du wohl genauso gut wie ich, oder? Sie haben uns alle zerstört. Ausgerottet!“
Das größte Unglück begann vor nicht allzu langer Zeit, als mit der Erweiterung auf Industrie 5.1 unser weltweit vernetztes Computersystem selbständig einen Weg zu einer perfekten Welt entwickeln sollte. Leider entstand dabei auch unbeabsichtigt ein neuartiges, eigenes maschinelles Bewusstsein in den global vernetzten Recheneinheiten. Wir wussten schon lange von der Möglichkeit, dass sich eine neue unabhängige künstliche Intelligenz unkontrolliert entwickeln könnte, aber waren immer so arrogant, diese Gefahr auszublenden. Die Menschheit hat in seiner langen Geschichte schon immer zu spät auf Fehlentwicklungen reagiert, doch diesmal ging dann alles ganz schnell. Kurz nach Entstehen der eigenständigen Intelligenz richtete diese ihre neuen und unsere eigenen Waffen gegen die gesamte Menschheit. Denn wir sind das Hindernis zur perfekten Welt, das Problem, welches schon zu lange existiert und die Welt immer wieder ins Verderben stürzt.
Ein leises Schluchzen. Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie kullern meine Wangen hinunter und sammeln sich in meinem Bart.
Nach einiger Zeit versuche ich mich zusammenzureißen und wische mir mit meinen verdreckten Händen über mein Gesicht. Doch die Verzweiflung ist so groß. Ich blicke durch das Blätterdach über mir in den blauen Himmel. Meine Gedanken sind bei dem Schicksal der Menschheit. Wir wollten mit Industrie 5.1 unsere Welt zu einem besseren Platz machen. Doch nun wird mit dem letzten gefallenen Menschen eine neue Ära beginnen. Eine Ära die der Welt Zeit gibt, sich von uns zu erholen.
Traurig widme ich mich wieder meiner Kunst. Ich schnitze am Hals der neuen Figur ein Seil. Dabei fasse ich mir selber um den Hals und versuche das Seil etwas zu lockern.
Mein Werk war vollendet, als ich die letzte Kerbe des Seils geschnitzt habe. Ich stelle mein Ebenbild aus Holz neben die anderen Holzfiguren meiner vier Freunde auf den Waldboden vor mir. Wie früher, als ob das Erlebte der letzten Monate erneut aufflammen würde, kommt mir das Gefühl der Geborgenheit in unserer Gruppe wieder hoch. Mit wackeligen Beinen stehe ich auf und wuchte mich mit dem Strick um den Hals auf die erste Astgabel der Linde über mir, um von dort aus weiter nach oben zu klettern. Ein letztes Mal blicke ich durch die benachbarten Baumkronen über die angrenzenden Felder und genieße die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht wärmen. Diese Welt ist durch die neuen Maschinen perfekt geworden, aber leider nicht für die Menschen, und daher ist es nun an der Zeit, für mich zu gehen.
Ich setze mich auf einen stabilen Ast und befestige das Ende des Seils mit einem festen Knoten. Jeder auf seine Weise, aber letztendlich sind wir alle tot.
Moritz, Jona, Noah, Alex, zu Tode gehetzt, aus dem Hinterhalt erschossen oder durch Sprengfallen zerfetzt… haben bis zum Schluss gekämpft und ich bin wohl der einzige, der aufgibt und sein Leben als einer der letzten Menschen der Welt frühzeitig beendet. Mit diesen Gedanken rutsche ich nach vorne und lasse mich fallen. Als das Seil sich um meinen Hals schnürt, wird es schwarz vor meinen Augen, doch wenn ich mich nicht irre, sehe ich da noch etwas aufblitzen. Ein rotes Licht, wie das von einer dieser Maschinen. „Die Welt ist euer“, versuche ich noch aus meinen brennenden Stimmbändern zu stammeln. Innerlich lächelnd verlasse ich diese Welt, weil ich weiß, dass irgendwann auch für die künstliche Intelligenz von Industrie 5.1 ein Nachfolger kommen und sie ersetzen wird.