Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Lisanne Horsinka, 17 Jahre
Oh Mein Gott! Was trägt sie denn da? Schlaghosen sind doch so was von `letzte Saison‘! Bei denen ist auch nicht alles gerade zuhause, da hat sich nämlich die Mutter wohl von ihm getrennt. Hab ich das gerade wirklich gesehen? Es fährt doch wohl keine Sechzehnjährige City-Roller. Welcher normale Mensch isst denn schon Eis mit Senf?!
Der normale Mensch wird geboren mit zehn Fingern, zehn Zehen, zwei Ohren und einer Nase. Er ist männlich oder weiblich, kann sich artikulieren und weiß natürlich alles, was Günther Jauch Montag abends fragt.
Nach der Schule nimmt er einen gut bezahlten Job an, heiratet glücklich, gründet eine Familie und lässt sich nach ausreichender Zeit als Rentner in ein Altenheim von seinen eigenen bis dahin erwachsenen Kindern abschieben. Man führt eben ein ganz normales Leben. Nein, natürlich nicht! Denn wer weiß eigentlich schon, was normal ist? Etwa der Durchschnitt? Schauen sie sich tagtäglich Statistiken an? Viel besser, haben sie jemals bei einer dieser Umfragen dazu mitgemacht? Tag für Tag, Lebensjahr um Lebensjahr werden wir älter und dabei erzogen – ja regelrecht darauf trainiert - zu erkennen, was vom Normalen abweicht. Ein Leben lang! Doch wenn keiner normal ist, was ist dann eigentlich „normal“?
„Gott, so ein Modedesaster, diese Farbkombi mit der Figur! Die traut sich aber was. Tz.“ Tja, da hat sich endlich mal jemand getraut, was anderes zu tragen, als diese Pseudo-Helfer namens „Modemagazine“ vorschreiben und schon wird er verpönt. Dieser lächerliche Versuch, uns beizubringen, abgemagerte Striche in der Landschaft wären die Normal-Figur und zum Glück auch völlig ohne Diät zu erreichen, ganz zu schweigen von Sport. Was ist so schlimm daran, seinen eigenen Stil zu haben? Nur weil du dich nicht getraut hast?
Das gewohnte Auge nimmt Dinge, die von der Allgemeinheit abweichen, sofort als Sensation wahr! „Jetzt laufen bei uns auch noch Asylanten rum! Und die von unten an der Ecke da heiratet auch noch so einen.“ Ja, das sind andere Menschen, da hast du vollkommen recht. Doch ´anders´, ist noch lange nicht gleichbedeutend mit ´schlecht´. Und das vergessen wir all zu oft.
Aber wer hat eigentlich festgelegt, dass City-Roller nur was für kleine Kinder sind? Dafür sind sie viel zu praktisch. Ich (17) fahre jeden Morgen meinen Berg runter bis zur Bushaltestelle und habe so morgens fünf Minuten mehr Zeit im Bad. Und weil ihr mich jetzt dafür schief anguckt, soll ich fünf Minuten früher aufstehen oder was? Nein danke. Denn inspiriert dazu haben mich eigentlich zwei Lehrer unserer Schule, die ebenfalls immer und nahezu überall mit dem Roller in der Stadt zu sehen sind. Und die sind nun wirklich „zu alt“ dafür. Aber an alle, die mich immer komisch angucken: Ich habe seit neuestem einen City-Roller für Erwachsene – ja, obwohl er pink ist. Und ich bin immer noch schneller zuhause als ihr, selbst wenn es bergauf geht!
„Und stell dir vor, da hat er sein Haus einfach ozean-blau gestrichen. Das passt ja so was von gar nicht in das Farbflair der ganzen Straße. Irgendwie zerstört das gerade alles.“ Ist es wirklich so abwegig, dass er nun mal ein blaues und kein grau-rotes Haus wollte? Wie oft in seinem Leben hat man schon die Gelegenheit, über die Farbe seines Hauses zu entscheiden?
Verkrampft versuchen wir überall das Normale auszumachen und eine Trennlinie zum Ausgefallenen zu ziehen. Sobald etwas anders geartet ist, müssen wir darüber berichten. Das ist genau das, was ich meiner Freundin ins Ohr flüstere, wenn wir an einem älteren Mann mit nur sieben Fingern vorbeilaufen. Doch über die tausend anderen Menschen um uns verliere ich kein Wort.
Genauso wie ich bereits einen halben Tag später Bescheid weiß, dass ein Junge Selbstmord begangen hat, doch nichts von der Frau, die beim Autounfall auf der Autobahn letzte Woche ums Leben kam. Sensationsgeil wird sich draufgestürzt und werden Fragen über Fragen gestellt. Ich kann auch nicht mit einem Katzen-Ohren-Haarreif raus gehen, ohne angestarrt zu werden und Sätze wie „Oh ist bei dir heute Fasching?“ zuhören – Glaubt mir Leute, mein Faschingsoutfit ist wesentlich auffälliger. Seit Jahren predigen wir, es gibt keinen Perfektionismus und dass es auf den einzelnen Menschen ankommt, dass wir verschieden sind und doch jeder ein Unikat, trotzdem leben wir nicht danach. Spreche ich Dialekt in der Schule, werde ich von Freunden darauf angesprochen. Jeder spricht hier schließlich mehr oder minder Hochdeutsch. Die Eltern meiner Freundin haben sich getrennt. Achtung: Sensationsthema. Neben einem aus der Parallelklasse ist sie nämlich die Einzige. Lasst die Leute doch Leute sein, jeder wie er will. Natürlich ist es nicht schön, wenn sich Eltern trennen, aber Hauptthema des Dorfes zu sein und lästige Seitenblicke mit Getuschel kann man sich echt sparen. Was normal ist schreiben wir uns nämlich selber vor oder viel schlimmer noch, wir lassen es uns vorschreiben. Anschließend setzen wir es dann fest in Magazinen mit der Überschrift „Jetzt erfahren sie, wie Sie ihre Wohnung perfekt einrichten können!“ zum Beispiel. Wir legen selbst fest, was In oder Out ist, wir bestimmen den Trend, doch haben Angst, uns von ihm abzuheben und beschweren uns über Mobbing, weil einige von uns sich nicht anpassen können.
Wäre es denn so schwierig, über seinen Schatten zu springen und Toleranz gegenüber anderen zu zeigen, anstatt vorschnell über sie zu urteilen? Schönheit liegt angeblich im Auge des Betrachters, doch in Wahrheit kann man sich an alles gewöhnen, wir müssen es nur oft genug gesehen haben. Fanden nicht am Anfang alle den Under-Cut blödsinnig, doch auf einmal haben alle die Frisur. Ach wie war das noch gleich mit dem Vintagelook? Und geben Sie jetzt ruhig zu, dass sie mindestens eines dieser Vintage-Schilder mit einem Spruch drauf zuhause hängen haben oder sich letzte Woche erst so ein Kleidungsstück von der Verkäuferin haben andrehen lassen, weil sie es insgeheim doch schön fanden.
Sehen Sie, wir kreieren dieses „Normale“ selbst und gehen immer vom Durchschnitt aus, gewöhnen uns daran und trennen alles andere davon ab. Selbst der angebliche Individualismus kommt heuchlerisch daher. Jeder soll seinen eigenen Style haben, auffällig sein und seine eigene Persönlichkeit frei entfalten können – ja, aber bitte nur ein bisschen! Also der Normalgrundstyle, den die Allgemeinheit trägt, musst du schon an den Tag legen und deine Schuhe dürfen dann auffällig sein, aber nicht mehr, sonst bist du komisch. Denkt mal darüber nach. Wir sind unseres eigenen Glückes Schmied, also probiert einfach mal etwas Neues! Wer weiß, vielleicht ist es morgen schon ein Trend? Ihr wisst ja, nur wer seinen eigenen Weg geht, kann von niemandem überholt werden. Die Zukunft kommt, und so verworren es auch klingen mag, es wird immer etwas anderes In sein, doch wenn sich niemand danach richtet, gibt es dann überhaupt noch ein In? Lasst eure beigebrachten Standardbilder hinter euch. Seit offen zu anderen, wie ihr auch wünscht, dass sie euch akzeptieren, wie ihr seid. Und selbst wenn ihr nicht wisst, wann der Berliner Mauerfall war, ist das überhaupt nicht schlimm, denn ich bin mir sicher, ihr kennt euch dafür woanders gut aus. Also bleibt innovativ, interessant und bringt diese Welt voran. Und wie ein gutes Bild aus dem Internet mir sagte: „Nur wer aus dem Rahmen fällt, sieht das ganze Bild!“ Also behaltet den Überblick.
PS: Ich kenne durchaus jemanden, der Eis mit Senf isst.