Der heilige (Selbst)wert einer Frau
Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Julia Heidi Horn, 24 Jahre
Ich gehöre dir, denn die Bibel sagt ja, ich bin nur hier, weil du deine Rippe gabst, damit ich sein kann.
Das heißt, ich stehe für immer in deiner Schuld, bin auf ewig dein.
“Bin ich schön (genug) für dich?
Sind meine Brüste nicht zu klein?
Ich weiß, sie hängen etwas,
deshalb lasse ich das Shirt lieber an,
ist das in Ordnung für dich?”
Da sind Reihen unendlich schöner Engel;
ihre Reinheit ist ihr geburtgegebenes Recht,
aber sie vergaßen,
denn ihre Flügel sind gestutzt.
Sie zwingen ihr eigenes Herz
für einen Gott zu schlagen,
weil sie fürchten
sonst ihren Heiligenschein abtreten zu müssen.
“Ja, es ist meine Schuld,
es tut mir leid,
ich habe überreagiert.
ich bin zu sensibel, zu verletzlich.”
Ihre Spiegelbilder zeigen ein verzerrtes Gesicht,
sie ziehen an der Haut ihrer Wangen,
jede Falte ihres Charakters wird gestraft,
denn neben den Spiegeln
hängen Fotos aus Illustrierten
von Engeln verschobener Reinheit.
Und verrucht sind sie auch.
Verzweifelt versuchen die Engel herauszufinden,
wie sie diese zwei Gegensätze
in ihre Sprache, in ihre Bewegung,
in ihrem Sein einfließen lassen können.
Weder die Fotos
noch der Spiegel
zeigen die wahre Schönheit
ihrer Abgebildeten.
“Reiche ich dir aus?
Ich kann für dich mehr sein!”
Die Engel singen im goldenen Chor:
'Oh Herr, befrei mich von der erschwerenden Last,
die mein zweites X Chromosom mir gab,
schick mir ein Y, damit ich weiß, wohin ich gehen muss.
Denn du, oh allmächtiger Gott, hast einen Penis und bist auch der Einzige, der alles weiß.'
Ich war das erste Mal von genau 100 Jahren in Deutschland wählen, in der Schweiz vor nicht einmal 50 Jahren. Seit 2018 darf ich in Saudi-Arabien einen Führerschein machen. Ich werde jeden Tag 8000 Mal beschnitten. Ich verdiene in Deutschland knapp 6 Prozent weniger als ein Mann, unter den gleichen Bedingungen, für den gleichen Job. Seit 1997 ist es in eben diesem Land illegal, dass mein Ehemann mich vergewaltigt.
Seit nicht einmal 25 Jahren kann ich ihn dafür anzeigen.
Ich bin die Hälfte aller Menschen.
Außer in China und Indien, denn dort werde ich wegen meines Geschlechtes in vielen Fällen nicht geboren.
“Du hast recht, meine Ansprüche sind zu hoch...
Sind sie das wirklich? Oder verkaufst du mich nur für dumm?
Verhandle ich meine eigenen Gefühle? Aber wieso?
Und für wen?
Wenn ich in den Spiegel schaue,
sehe ich dann wirklich mich
oder sehe ich all das was mir fehlt,
um dir zu gefallen?”
Ein Engel mit schwarzen Flügeln findet die Güte zu sich selbst, die Federn wachsen.
Der Engel streckt seine schwarzen Flügel empor und fliegt, wird selbst zur Göttin.