Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Claire Stark, 22 Jahre
Wenn Sie das Wort „Katalysator“ hören, denken Sie dann an die lustigen, cremefarbenen Zylinder, die in Autos verbaut werden? Wissen Sie, was genau die eigentlich machen? Falls nein, schauen Sie den Film aus der Sendung mit der Maus zu dem Thema an. Der ist gut.
Grundsätzlich senkt ein Katalysator die Energie, die nötig ist, damit eine chemische Reaktion abläuft. Er ermöglicht damit Prozesse, die sonst gar nicht ablaufen würden oder unwirtschaftlich wären. Das Bierbrauen mittels Hefe ist übrigens auch ein katalytischer Prozess, und alle Stoffwechselwege im menschlichen Körper sowieso.
In meiner Bachelorarbeit habe ich an Katalysatoren geforscht, die CO2 als Rohstoff für die chemische Industrie nutzbar machen. Das ist super cool und super wichtig. Kurz nach dem Abschluss war ich auf einer Veranstaltung im Literaturhaus und wurde gebeten, den Titel meiner Bachelorarbeit zu nennen. Es wurde gelacht, weil der Titel für die Leute dort so unverständlich klang. Sie haben explizit nicht gefragt, was das denn in normalen Worten bedeutet. Dabei hätte es absolut jeder dort verstanden.
Damit will ich nicht sagen, dass die Leute im Literaturhaus doof wären. Sondern, dass wir ein Problem in unserer Gesellschaft haben, das sich auf drei Punkte reduzieren lässt:
1. Der Irrglaube, Menschen wären entweder geistes- und gesellschaftswissenschaftlich oder naturwissenschaftlich-technologisch begabt und interessiert. Und dass diese zwei Bereiche zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe wären. Das ist falsch. Es sind der linke und der rechte Schuh, die gemeinsam ein Paar bilden. Sie können sich nicht in allen Bereichen gleichzeitig spezialisieren, aber es ist durchaus nicht unmöglich, eine grobe Ahnung von den anderen Bereichen zu haben. Sie können vielleicht mit Ihrem rechten Fuß besser schießen, aber das schließt nicht aus, dass Sie trotzdem auch mit Ihrem linken Fuß laufen können.
2. Elitenbildung. Wissenschaftler_innen jeder Fachrichtung tendieren dazu, davon auszugehen, dass sich „die Leute“ für ihr jeweiliges Thema nicht interessieren und es eh nicht verstehen würden. Diese Wissenschaftler_innen müssen lernen, ihr Thema trotzdem immer und immer wieder neu zu erklären, mit Worten und Bildern, die der jeweiligen Zuhörerschaft oder Leserschaft angepasst sind. Sie müssen lernen zu respektieren, dass die Anderen sich in dem Bereich nicht auskennen, dass das nicht schlimm ist, und dass die Anderen aber in der Lage sind, sich dank ihnen weiterzubilden.
„Die Leute“ tendieren dazu, anzunehmen, dass Wissenschaftler*innen elitäre Snobs sind, die kein Interesse daran haben, an nützlichen Sachen zu forschen oder ihre Forschung verständlich zu erklären. Sie tendieren auch dazu, schon aufgegeben zu haben. Was sie in der Schule damals nicht verstanden haben, werden sie jetzt schon dreimal nicht verstehen. Auch sie müssen etwas lernen, nämlich weiter Fragen zu stellen und Antworten einzufordern, verständliche Antworten. Und sie müssen lernen, diesen Antworten auch zuzuhören. Es ist nie zu spät noch dazuzulernen. Vielleicht können sie ihr neu gewonnenes Wissen irgendwann praktisch anwenden. Auf jeden Fall wird es ihnen helfen, zu verstehen, was überall in der Welt abgeht.
3. Die Angst, zu fragen. Es gibt das Klischee, dass Ärzt_innen von ihrem privaten Umfeld ständig um medizinischen Rat gebeten werden und davon genervt sind. Es kann sein, dass das manchmal zutrifft. Auf Chemiker_innen kann ich das jedenfalls nicht übertragen. Ich werde eher selten nach meiner Expertise gefragt, und wenn doch, erkläre ich sehr gerne. Ich freue mich riesig, wenn jemand etwas versteht oder aus den Tiefen seines Gehirns doch noch Reste des Schulstoffs dazu herauskramt. Das ist ein großartiges Erlebnis, jedes Mal wieder.
Trauen Sie sich, zu fragen. Trauen Sie sich, auch mehrmals nachzufragen, wenn Sie etwas vergessen oder nicht verstanden haben. Das ist okay, das ist menschlich. Was zählt, ist, dass Sie am Ende schlauer sind als zuvor. Ich selbst frage alle paar Wochen „Eric Clapton ist der Gitarrist und Phil Collins der Schlagzeuger, oder ist es anders herum?“ Ich bin zuversichtlich, dass die Antwort in wenigen Jahren in mein Langzeitgedächtnis vorgedrungen sein wird. Und wieder werde ich etwas Neues gelernt haben.
Jetzt mal im Ernst: Hören Sie nicht auf, Fragen über alles und jeden zu stellen, nur weil Sie erwachsen sind. Hören Sie nicht auf, neugierig zu sein, hören Sie nicht auf, verstehen zu wollen. Fordern Sie Antworten ein. Ich glaube nicht an vieles, aber ich glaube daran, dass es uns allen, einzeln und als gesamte Gesellschaft, gut tut, wenn wir unsere Scheuklappen wegwerfen und uns ins alltägliche Lernen stürzen. Bildung ist der wirksamste Weg, Rassismus, Sexismus, Armut und Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Und glauben Sie niemandem, der Ihnen erzählen will, was alles zur Bildung gehört und was nicht. Alles ist Bildung. Effie Briest genauso wie Das Parfum und Harry Potter. Eric Clapton und Phil Collins genauso wie Mozart und Rammstein. Katalyse genauso wie die Funktionsweise eines Lithium-Ionen-Akkus und die Wirkung der Anti-Baby-Pille. Platon genauso wie Karl Marx und George Orwell. Schauen Sie Game of Thrones und Bares für Rares, aber schauen Sie auch mal Quarks und die Sendung mit der Maus. Seien Sie vielfältig. Bitte. Es lohnt sich.