Ein Tag im Jahr 2020

Einsendung von Lea Müller, 23 Jahre

*Neustadt*
Eine Hochzeit, sagt man, solle der glücklichste Tag im eigenen Leben sein. In Wahrheit ist es aber eigentlich nur Stress. Die ganzen Vorbereitungen, die Verwandten, die einem mit ihren Ansichten auf die Pelle rücken und in meinem Fall, trug ich noch ein sechs Monate reifes Kind in der Kugel vor mir herum. Doch mein Herz sprang vor Freude, als Matthias mich nach der Trauung die Kirchenstufen hinunterführte, immer auf das Wohl unseres ungeborenen Kindes bedacht. Meine Mutter strahlte mich aus dem Spalier heraus an und warf gemeinsam mit Freunden und Familie in großer Geste Reiskörner in die Höhe. Nur Matthias Schwester Viola, der Öko-Nazi, schenkte mir bloß ein Lächeln und winkte, statt Reis zu werfen.

*Tschad*
Mit Mühe kratzte ich die letzten Reste für Jamila aus der Keramikschale. Sie sah heute gar nicht gut aus. Lag schon den ganzen Tag dämmrig auf der Decke. Es war zu heiß in unserer Hütte und Wasser und Nahrung waren zu knapp. Als ich Jamila vor zwei Jahren zur Welt brachte, war das noch nicht so schlimm. Wir hatten noch Getreide und einen Brunnen im Dorf. Heute liegt Sand, wo früher die Felder waren und der Brunnen ist versiegt. Wir wissen nicht warum. Mein Zahir ist dann fortgegangen. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Manche sagen, er sei ertrunken. Plötzlich bekam ich Angst, dass auch Jamila mich verlassen könnte. Ich nahm sie auf den Rücken und sie schlang ihre dünnen Arme um meinen Hals. Zwanzig Kilometer nördlich, hatte jemand behauptet, solle es eine Station geben mit weißen Menschen, die ein Wundermittel in kleinen Tüten haben. Und tatsächlich fand ich den Ort. Zu meinem großen Glück konnten die blassen Wunderheiler Jamila helfen.

*Neustadt*
Endlich waren wir beim Auto angekommen und dem Reis entflohen. Das Cabriolet hatten wir uns letztes Jahr gekauft, als Matthias befördert wurde. Viola kam damals natürlich nicht umhin uns zu fragen, ob wir ein elektrisches Fahrzeug bei solch einem Budget nicht für sinnvoller gehalten hätten. Sie verdirbt einem ganz gerne mal den Spaß. Während wir uns in das blumengeschmückte Fahrzeug setzten, und die anderen Gäste in ihre eigenen Autos stiegen, schwang sie sich wie demonstrativ auf ihr Fahrrad. Matthias bemerkte meine Anspannung und strich mir über den Bauch. „Reg dich ab Liebling“, sagte er, „Heute ist unser Tag.“ Das Gleiche sagte er nochmal, als wir dann versammelt auf der Restaurant-Terrasse saßen und Viola das Steak ablehnte, das mein Vater achselzuckend zurück auf den Grill legte.

*Brasilien*
Endlich hatten wir Glück. Vater hatte seinen Job verloren und lange Zeit wussten wir nicht, wie es weiter gehen soll. Ich habe ein paar Gelegenheitsjobs um São Paolo bekommen, aber nichts, das uns alle versorgen konnte. Also sind wir zurück in den Amazonas, wo Großvater seine Ländereien hat. Und dann kam also eines Tages dieser Mann, der uns von den Möglichkeiten im Soja-Anbau und der Rinderzucht erzählte. Großvater war zuerst nicht dafür. Er hatte schon ein paar Mal solche Angebote für sein Land bekommen. Papa konnte Großvater schließlich umstimmen und wir setzten alles in Brand und haben uns so eine Lebensgrundlage geschaffen. Doch die Flammen werde ich wohl nie vergessen. Ich wusste, dass etwas in Großvater gestorben war.

*Neustadt*
Langsam senkte sich die glühende Sonne am Horizont und es wurde Abend auf der Terrasse. Die Hochzeitsgäste tanzten beschwingt auf der kleinen Tanzfläche und mir wurde ganz warm im Herzen. Opa war schon etwas beschwipst und wirbelt so herum, dass ihm das Weinglas aus der Hand flog. Zum Glück war es aus Plastik, und wir lachten alle nur, auch mein Matthias. Seine Schwester hatte natürlich vorsorglich ihr eigenes Glas mitgebracht. Als sie dieses erhob und aufstand, um eine Rede zu halten, befürchtete ich das Schlimmste. Sicherlich würde sie darin geschickt Seitenhiebe zu Plastikverschmutzung und Konsumverhalten verstecken. Doch nichts dergleichen geschah. Sie lächelte und sagte einfach: „Lieber Matthias, liebe Simone! Nichts macht mich glücklicher, als euch beide glücklich zu sehen. Ich möchte auf eure Zukunft und die eures Kindes anstoßen. Auf das ihr gesund bleibt und es euch nichts mangelt.“

*Malaysia*
Rayyan war mit einer Schlaufe auf meinem Rücken befestigt, sodass ich bei Sonnenaufgang sicher auf den neuen Müllberg klettern konnte und die wertvollen Materialien heraussammeln, bevor die anderen Kinder im Slum hinzustießen. Vor einigen Tagen hatte er zu husten begonnen und ich hatte Angst, dass es mit dem Gestank zusammenhing. Vielleicht vertrugen das Babys nicht. Aber was wusste ich schon und welche Wahl hätte ich gehabt? Mama und Papa waren tot, und wir Geschwister versuchten zu überleben. Im Morgengrauen stöberte ich also durch das Plastik und die alten Textilien. Und dann geschah es. Unter einem Plastikbecher, den ich einpackte, da er eine Aluminiumbeschichtung hatte, glitzerte ein zartes goldenes Armband. Mein Herz klopfte wie verrückt. Das musste wohl der glücklichste Tag in meinem Leben sein!

*Neustadt*
Um elf gingen die letzten Gäste, sodass Matthias und ich endlich alleine waren. Wir saßen noch eine Weile auf der Terrasse und blickten hinunter auf die Lichter der Stadt. Ich nahm seine Hand, an der jetzt der goldene Ehering funkelte und küsste sie. „Was für ein Glück ich habe.“, sagte er mit verschmitztem Lächeln. Viola schwang sich aufs Fahrrad und winkte uns freundlich zum Abschied. Sie hatte uns beim Aufräumen geholfen. „Deine Schwester hat heute kein mahnendes Wort verloren.“, sagte ich. Matthias legte den Kopf schief und erwiderte: „Ich hab dir ja gesagt, dass sie so übel nicht ist.“ Ich dachte noch eine Weile nach und kam zu dem Schluss, dass wir uns in Zukunft ein Beispiel an Viola nehmen sollten, während ich eine Hand schützend auf meinen Bauch legte und mit der anderen Matthias zu mir heranzog. Aus irgendeinem Grund fragte ich mich plötzlich zum ersten Mal, in welche Welt wir den Kleinen entließen.

Autorin / Autor: Lea Müller, 23 Jahre