Totenstille

Einsendung von Charis, 13 Jahre

Des Lebens müde – so fühle ich in den langen, einsamen Nächten. Mir kommt es vor, als wären meine Blätter nicht die einzigen, die ermattet sind. Meine Erinnerung geht weit zurück. Tag für Tag denke ich an die Zeit, in der der Regen noch auf weiche Erde fiel und nicht auf Pflastersteine und Teer; als die Strahlen der Sonne und der Schein der Sterne noch weite Hänge und Hügel voll grünen Blätterrauschens beschienen. Wie lange ist das her? Ein Baum zählt die Jahre nicht, nicht die Male, in der seine Blätter fallen, nicht die Male, in der grüne Knospen aus seinen Ästen sprießen. Aber es ist viel Zeit vergangen, und andere, die jünger waren als ich, sind gekommen und gegangen; erst die Wälder, in deren Schatten ich gewachsen bin, und deren Schatten verschwunden sind, bis andere Bäume unter meiner Krone wuchsen – dann verschwanden auch diese Bäume, verdorrten und faulten im Inneren ihres Stammes. Doch die Jüngsten von ihnen wurden von den Menschen gefällt und abgesägt.
Die Menschen.
Wir hatten ihnen nicht mehr Beachtung geschenkt als den Waldtieren, die zwischen unseren Wurzeln lebten. Die Gedanken dieser Wesen sind unserer Art fremd, sie sind schnell und rege, hastig und kurzweiliger als selbst die der biegsamsten Schösslinge. Ihre Art lebt kurz, unsere viele Jahrhunderte. Ihre Art lebt in unserem Schatten, unsere wächst in Richtung der Sonne. Ihre Art mordet, wir aber scheren uns nicht um die Dinge, die andere Völker als uns selbst etwas angehen. Sie waren uns fremd, und wir kümmerten uns nicht um sie, weil wir von ihnen Gleiches erwarteten. Doch ich war noch jung, als das Töten begann. Sie fällten und schnitten uns, und es war das erste Mal, dass wir solchen Zorn empfanden. Wir standen unter dem Himmel, wie wir es schon immer getan hatten, unfähig in unserer Trauer, uns zu rühren und zu rächen. Unsere Gedanken und Gefühle fließen langsam durch den Kreislauf des Lebens, den wir bilden, doch haben die Säfte unseres Körpers sie in jeden Stamm und jedes Blatt getragen, fühlen wir diesen Zorn über Jahrhunderte hinweg.
Die Sterne schienen weiter auf meine Blätter hinab, der Regen fiel weiter auf die braune Erde, und Jahr um Jahr stand ich dort und streckte meine Wurzeln aus. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte – ich fühlte sie nicht, doch ich sah, wie meine Brüder um mich herum verschwanden und die Stätten der Menschen sich dort ausbreiteten, wo sich einstmals der Wald erstreckt hatte. Ich hatte gesehen, wie sie erst die Tiere des Waldes gejagt haben; nun jagten sie sich selbst und töteten aus bloßer Gier.
Um mich herum bauten sie Städte, legten Straßen an und überzogen die fruchtbare Erdoberfläche mit Stein. Der Boden gab ihnen viel, doch was sie ihm zurückgaben war wenig. Der Regen, der auf mich fiel, sickerte nicht mehr ungehindert ins Erdreich, sodass ich meine Wurzeln tief hinab führen musste, bis sie auf Grundwasser stoßen konnten. Doch auch in den tiefsten Tiefen, in die meine Wurzeln reichten, hatten die Menschen ihr Gift gebracht; es schmeckte nach dem, was sie an der Oberfläche geschaffen hatten: steinerne Wege, wo früher Hirsche liefen, gläserne Bauten, wo einmal Vögel auf grünen Zweigen zwitscherten, und riesige Staudämme, wo Flüsse einst flossen. Sie hatten die Erde in Fesseln gelegt und versuchten, sie zu zähmen.
Ich spürte, wie überall, wo die Menschen hinkamen, Dinge, die schon immer dagewesen waren, verschwanden.
Und diese Nacht, in der ich an all das zurückdenke, was ich in dem langen Leben eines Baumes gesehen hatte … sie ist trostloser, als alle Nächte zuvor. Die Sterne über mir scheinen so blass und müde, wie ich mich fühle. Die trüben Straßen zwischen den hohen Häuserschluchten werden von dem schwachen Licht einer Straßenlaterne erleuchtet. Sie flackert kurz, dann erstirbt ihr weißes Licht und lässt die Gassen in Dunkelheit zurück. Auch in mir erscheint alles dunkel, der nie verebbende Lärm der Straßen wird leiser in mir, bis Stille herrscht. Totenstille – nennt man es nicht so? Die Luft steht zwischen den schwarzen Häusern dieser Geisterstadt, in die mein Traum mich führt und in der sich kein Lüftchen regt. Und doch rauschen meine Blätter wie durch eine sanfte Brise. Der Wind der Vergangenheit singt in ihnen. Ich erinnere mich an diesen Tag, an dem ich bereits alt war und mich doch wieder so jung fühlte, wie vor vielen Jahrhunderten. Die Sonne war aufgegangen, warm und froh, obgleich es noch ein junger Frühling war. Ich wiegte mich im Tanz zu einer Musik, die nur der Wald kennt; die Musik des Wachsens und Keimens. Ein Rotkehlchen zwitscherte in meinen Zweigen und auch dieses sang sein Lied nach ihr. Ich spürte, wie die Freude mich durchdrang, sah den Tau wie Diamanten funkelnd auf dem Gras glänzen und die Sonnenstrahlen sich darin brechen. Da hörte ich Gesang aus dem Wald um mich herum, er näherte sich, und ein Mensch trat zwischen den moosbedeckten Wurzeln einer Buche hervor. Auf einmal merkte ich: Es war dieselbe Melodie, die ich meine Blätter durchdringen spürte, dieselbe Melodie, wie sie das Rotkehlchen zwitscherte; es war die Musik des Lebens.
Langsam kehrte ich aus meinen Träumen zurück. Auch hier war der Morgen angebrochen, wenn auch die Sonne, die über den Dächern erschien, blass und klein war. Auch hier hörte ich ein fröhliches Zwitschern in meinen Zweigen. Langsam begannen Menschen aus den Häusern zu treten, in Anzügen und Kostümen; und mit dem Ausdruck der Erwartung eines anstrengenden Arbeitstages in ihren Gesichtern, während sie an mir vorbeihetzten. Und auf einmal verspürte ich Mitleid mit ihnen. Sie hörten das Lied nicht, dass das Rotkehlchen ihnen sang. Sie wussten nicht, dass immer eine Blume erblühen und immer ein Samen in die Erde fallen würde, bis der Tod gemeinsam mit dem Leben sterben würde, solange die Sonne am Morgen aufging; sie wussten nicht, dass die Musik des Lebens ihr Schicksal überdauern würde.
Und ich verspürte Traurigkeit, als sie an diesem Morgen an mir vorbeigingen. Ihr Leben musste ohne die Magie des Liedes still sein. Totenstill.

Autorin / Autor: Charis, 13 Jahre