Nach vielen Erdentagen waren sie zusammengekommen. Sie alle hatten sich versammelt. Hier, in der Wiege der Welt, jenseits von Raum und Zeit, galt es den einen zu finden, der würdig war, den Thron zu besteigen.
Da war das Licht, leidenschaftlich und rein.
Die Erde, weise und erhaben.
Die Luft, wild und unbekümmert.
Und das Wasser, tiefgründig und mächtig.
Zuerst ergriff die Luft das Wort: „Ich bin der Atem, der das Leben schenkt. Ohne mich gäbe es nur den Tod. Ich bin überall zugleich, und doch nicht zu greifen. Ich bin die salzige Meeresbrise und der duftende Frühlingswind, ich bringe den Sturm und die tiefste Stille.“
Dann das Licht: „Ich bin der Anfang und das Ende. Ich bin älter als ihr alle und ich werde noch da sein, wenn die Erde zu Staub zerfällt, das Wasser verdunstet und die Luft erstickt. Ich bin eure Geburt und euer Untergang. Ich bin die Hoffnung in der Finsternis und die Wärme eines Sommertages.“
Die Erde: „Ich bin das Fundament alles Seins. Von den höchsten Gipfeln bis zu den tiefsten Tälern, ich gebe euch eine Heimat und den Boden, auf dem ihr steht.“
Zuletzt trat das Wasser hervor: „Ich bin das Elixier des Lebens. Ich bin der Tropfen, der die Blume sprießen lässt und den kleinen Vogel versorgt. Ich bin die mächtige Flut, die unergründliche Tiefe, die Brandung, die den Stein formt.“
Sofort meldete sich die Luft zu Wort: „Wie könnte das Meer anbranden, wenn nicht durch den Sturm, der es bewegt?“
„Was verstehst du schon davon?“, donnerte das Wasser. „Du bist jung und voller Leichtsinn.“
„In der Tat bin ich jung“, säuselte die Luft. „Jung und kühn bringe ich frischen Wind in eure alte Welt.“
Da erwiderte das Licht: „Wie Kinder streitet ihr euch und habt doch kein Recht auf den Thron. Ich nahm euch bei der Hand als ihr eure ersten Schritte tatet und nun erwartet ihr über mich zu herrschen?“
Und sie diskutierten und stritten, Millionen Jahre lang, doch irgendwann legte sich Schweigen über die Elemente.
Schließlich sprach die Erde ihnen allen aus der Seele: „Warum streiten wir uns um einen Thron, dessen wir nie bedurften? Wir selbst sind alles was wir brauchen. Der eine wäre ohne den anderen nichts, aber zusammen sind wir alles. Ohne das Licht wäre mir bitterkalt. Und was hätte das Licht für einen Sinn, wenn es nichts gibt, das sich zu erhellen lohnt? Was wäre das Wasser ohne die Erdenschale, die es auffängt? Wer stillt den Durst und füllt die Lungen?
Es ist dieses Gleichgewicht, das uns Leben einhaucht und einzigartig macht. Denn welchen Zweck hat unsere Existenz, wenn nicht um Leben zu schenken? Was wäre ich ohne die kleinen Pfoten und Hufe und Füße, die meinen Rücken kitzeln? Was wäre der Wind ohne Vögel, die er trägt und Geschöpfe, die seinen Duft erschnuppern? Das Wasser ohne Fische, die seine Ozeane erkunden und das Licht ohne Augen, die sich über die aufgehende Sonne freuen?
Daher sage ich euch: Lasst uns den Thron zerschlagen und lasst uns leben wie Brüder und Schwestern, Seite an Seite!“
Und das Wasser rauschte zustimmend, der Wind jauchzte, das Licht strahlte übers ganze Gesicht und die Erde stampfte begeistert ob ihrer Erkenntnis.
Der Rat war beendet, sie kehrten heim und ließen den Thron zurück. Doch nur einen Augenblick später, da wurde der Rat der Elemente wieder einberufen. Wenige Millionen Jahre waren vergangen, doch sie waren gealtert, unsagbar gealtert.
Zuerst tauchte die Luft auf, stinkend und verpestet. Die jugendliche Unschuld war von ihr gefallen wie Regen vom Himmel.
Ihr folgte das Wasser, noch mächtig und groß, doch hatte es all seinen Stolz verloren. Es war öligschwarz, starrte vor Müll und roch nach totem Fisch.
Das Licht, einst strahlend hell und lachend, war jetzt trübe und bekümmert.
Schließlich die Erde, gebeugt wie ein Greis und aus vielen Wunden blutend.
Sie sahen sich an und schwiegen.
Da saß er, der Mensch, so unendlich jung und vergänglich. Er hatte sich auf den Thron gesetzt, in aller Stille und ohne jegliches Recht. Er war blind, trotz all ihrer Größe schien er sie nicht zu sehen. Drohend und mächtig standen die Elemente, umringten den Thron und das unscheinbare Wesen in ihrer Mitte.
Dann sprachen sie, zu einer Stimme vereint, mit heißer Leidenschaft und felsenfester Überzeugung, mit dem Brausen des Windes und dem Grollen des Ozeans. Denn sie waren eins, das waren sie schon immer gewesen.
„In diesem Moment könnten wir dich ertränken, verbrennen, ersticken, zermalmen. Wir schenkten dir alles was du bist und wenn es sein muss, werden wir es dir wieder nehmen.
Sei gewarnt! Geht einer von uns unter, versinkt die ganze Welt. Die Fische im Bauch des Meeres verenden, die Vögel fallen vom Himmel und alles Leben wird wieder zu Erde und Stein. Das gilt auch für dich, Mensch. Wir haben dich nie gebraucht und auch wenn du lange fort bist, werden wir ohne dich auskommen.“
Sie hielten kurz inne.
„Doch wie ein Vogel am Firmament und ein Fisch im Meer schenkst du uns Leben. Mit all deiner Jugend und Vergänglichkeit öffnest du uns die Augen. Du erforschst unsere Geheimnisse und zeigst uns unsere Wunder.
Was ist Wasser, nach dem niemand dürstet und der Edelstein, den niemand begehrt? Was ist Schönheit, ohne Augen, die sie betrachten?
Ich sage dir, Mensch: zerschlage den Thron, ein für alle Mal und wir wollen dir verzeihen.“
Die Elemente warteten und schwiegen.
Schließlich öffnete der Mensch die Augen und es war, als sehe er sie zum ersten Mal.