Einsendung von A. Nestler, 23 Jahre
Draußen war es jetzt dunkel. Die Luft, die gegen die geschlossenen Fenster drückte, hatte einen Geruch aus Qualm, Rauch und Abwasser, das in der Gosse floss. Seit der Explosion im Bairro São João bedeckte Gas die Straßen Lissabons. Fede stellte die Sauerstoffflasche auf den Boden. Wie lange war das jetzt her? Er dachte kurz nach, zuckte dann aber mit den Schultern. Wer das Grün der Bäume vergessen hat, weiß solche Dinge nicht mehr.
Vor Jahren (Vor vielen? Vor wenigen?) hatte die Regierung beschlossen, alle Bäume und Sträucher auszulagern. Auszulagern. Noch heute schüttelte Fede über dieses Wort den Kopf. Die Stadt sei überfüllt, hieß es, und für Pflanzen sei kein Platz mehr da. Der Chemieunfall, der sich wenig später ereignete, gab der Stadt den Rest. Die Kriechgase töteten alles, was zu nah am Boden wuchs. Fede hob die Sauerstoffflasche wieder auf und seine Großmutter kam ihm in den Sinn. „Die Pflanzen“, hatte sie immer gesagt, „wachsen so gern. Und den Pflanzen zu verbieten, dass sie wachsen, das ist zwar ganz gut möglich, aber doch ziemlich schwer.“ Ihr Lächeln, das sie ihm dabei zu schenken pflegte, das hat Fede nicht vergessen.
„Sauerstoff für alle!“ „Das Glück trägt eine Maske - eine Sauerstoffmaske!“ „Ohne Maske keine Freiheit.“ „Wir sind Sauerstoff!“ Fede musste an die Losungen von damals denken, während er sich am Kamin niederkniete, um die Flasche anzuschließen. Ja, dachte er, wer so spricht, hatte nie eine Oma.
Verdammte Flasche ...
Fede platzierte die Maske über Mund und Nase und drehte die Flasche auf. Der Sauerstoff schoss ihm augenblicklich ins Gehirn und die Stille in seinem Zimmer zerriss. Ein rasendes Stampfen und Toben erfüllte den Raum, die Bretter unter ihm bogen sich, die Wände zitterten.
Fede schüttelte sich einmal und die Halluzinationen waren weg.
Er setzte sich auf den Boden und starrte die Flaschen an, die in dem alten Kamin standen.
In seiner Vorstellung folgte er dem tubo de oxigênio durch die Mauern nach draußen. Hier sammelten sich die Leitungen aller umliegenden Häuser und führten vorbei an dem ehemaligen Gericht, in dem seine Großmutter gearbeitet hatte, zu den großen Pfeilern und von da nach oben, aus der Stadt hinaus.
Er hatte sich gut vorbereitet, um diesmal wirklich die Grüne Brücke zu erklimmen: Eine zweite Flasche gekauft, sein Sauerstoff-Grundeinkommen gespart, gewusst, wo das Auge der Kameras blind war. Und er hatte diesmal härter trainiert.
Beim Aufstieg dann, als sich bereits die zweite Flasche leerte, erschien ihm seine Großmutter.
Sein vom Sauerstoffmangel verwirrter Verstand ließ sie über die Betonwüste Lissabons auf ihn zufliegen, er sah nicht sie selbst, nur die verzitterte Zeichnung von ihr, die er seit einigen Jahren bei sich trug.
„Wohin willst du denn, meu menino?“
„Nach oben, zu den Bäumen.“
„Aber, mein lieber Junge, Bäume wachsen doch nicht im Himmel!“
„Heute schon. Dort oben, auf der Brücke, unter Kuppeln aus Glas.“
„Unter Kuppeln?“ Sie lachte.
„Na wenn ich’s dir doch sage! Die Kuppeln fangen den Sauerstoff ein.“ Fedes Atem ging immer schwerer.
„Und dann?“
„Nichts dann.“ Er war plötzlich genervt und müde. So, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.
„Dann schickt man den Sauerstoff zu uns runter.“
„So, so“, sagte seine Großmutter und lachte wieder. Diesmal klang es gemein...
„Hör auf zu lachen!“ Jetzt wurde er wütend. „Nichts haben wir mehr, und du lachst. Die Gerichte hat man zu Baumschulen umgebaut. Wo man früher das Recht pflegte, pflegt man heute Setzlinge. Aus Recht ist Recht auf Sauerstoff geworden. In den Bücherregalen findet man keine Paragrafen mehr, sondern Sprossen und Keimlinge. Statt damals auf die Straße zu gehen, habt ihr euch in eure Gärten zurückgezogen. Deshalb sind wir jetzt, wo wir sind." Fede konnte sich kaum noch halten. "Ich kann nicht mehr!“ Und damit verließen ihn seine Kräfte und er fiel. Das Seil, das um seine Hüfte gespannt war, straffte sich und verhinderte Schlimmeres. Wie lange er so hing, ohnmächtig, mit zu wenig Sauerstoff – das wusste er nicht.
Er wachte in seiner Wohnung auf. Die Behörden hatte ihn ins Bett gelegt. Denn ohne Gericht, auch kein Gefängnis - außer das eigene, das man heute Wohnung nennt.
Das war vor einigen Monaten gewesen. Inzwischen hatte er genug Grundeinkommen in die Flaschen gepresst, um einen allerletzten Versuch zu wagen. Er nickte langsam, wie um sich den nächsten Gedanken zu bestätigen. Dann drehte er den Sauerstoffregler bis zum Anschlag auf.
Autorin / Autor: A. Nestler, 23 Jahre