Langsam öffne ich meine müden Augen. Mein Schädel brummt und dort, wo früher mal meine Beine waren, ist nun Wackelpudding. Kurve um Kurve verliere ich immer wieder das Gleichgewicht, sodass ich ungebremst auf den kalten Metallboden knalle.
„He! Platz da!“, grölt ein Schwein aus der hintersten Ecke des Lasters.
Es ist eng. Sehr eng. Verglichen mit dem beißenden Geruch des kotverschmierten Bodens allerdings eine eher nebensächliche Unannehmlichkeit.
„Wo ist meine Familie? Wo bin ich?“, stammle ich in den ohrenbetäubenden Lärm aufgebrachter Schweine und Ferkel hinein – doch ohne Erfolg. Niemand scheint mich zu hören. Gerade war ich doch noch bei meiner Mama im Stall und nun stecke ich in diesem rappelvollen, fahrenden Käfig fest. Was ist nur passiert? Und wo fahren die mich hin?
Ich peile das Fenster drüben am anderen Ende des Lasters an. Es ist mit Gitterstäben versehen, doch es könnte mir einen vielversprechenden Ausblick bieten. Jetzt heißt es also: Ellenbogen zeigen. Zu meiner Enttäuschung muss ich feststellen, dass kleine Ferkel in einem solchen Getümmel schnell mal übersehen werden. Ich bahne mir jedoch tapfer meinen Weg durch das Gedrängel. Mit blitzschnellen Ausweichmanövern, flinken Schrittkombinationen und einer großen Portion Glück schaffe ich es beinahe unversehrt an die andere Seite.
Um einen genaueren Blick nach draußen werfen zu können, presse ich meinen Rüssel durch die Öffnung der Gitterstäbe. Etwas sagt mir, dass ich hier nicht hingehöre. Genauso wenig wie ich in die Massentierhaltung gehöre. Vielleicht ist dies aber auch meine Chance, auf einem Bio-Bauernhof leben zu können. Endlich mal so richtig glücklich sein… Ich bin ja noch jung, also sitze ich womöglich schon im Transporter, der mich in ein besseres Leben fährt. O Mann wäre das toll!
Trotz des Fünkchens Hoffnung ist meine Verzweiflung groß. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt, sich einen Plan zu überlegen, hier heraus zu kommen. Ich entschließe mich jedoch für die deutlich einfachere und unkompliziertere Variante: Ich weine. Aus kleinen Schluchzern werden Regengüsse an Tränen, bis mein kleiner Körper ein einziges, bebendes Häufchen Elend ist. Eine besorgte Stimme reißt mich schlagartig aus meinem Selbstmitleid,
„Was ist denn mit dir los!? Geht es dir gut?!“
Zwei große, schwarze Kulleraugen starren mich an. Sie gehören zu einem Ferkel mit hellen, feinen Borsten und mit glatter, weicher Schweinchenhaut. Ihr rosa Teint ist bezaubernd und ihr Ringelschwanz der schönste, den ich je gesehen habe.
„I-Ich… Ich suche meine F-Familie“, stottere ich – noch immer unter Tränen.
„O, das tut mir leid. Ich könnte gut eine Reisebegleitung gebrauchen. Was meinst du?“
„Das finde ich p-prima! Ein bisschen Gesellschaft könnte mir auch nicht schaden.“
„Super Sache! Ich bin übrigens Babe. Wer bist du?“
„Wer ich bin? Also einen Namen habe ich nicht direkt, aber auf meinem Ohr steht die Nummer DE-BOR-073 0482.“
„Wie du hast keinen Namen?! Das müssen wir schnell ändern! Wer möchte schon mit einer so grässlichen Nummer gerufen werden, nicht wahr?“
Einen Moment lang herrscht angestrengte Stille, während Babe all ihre Gehirnzellen anstrengt.
„Ich hab’s!“, ruft sie fröhlich, „von heute an heißt du Toby!“
„O, der Name ist der Knaller! Danke Babe. Ohne dich wäre ich nie auf diese geniale Idee gekommen.“
Und so wurden Babe und ich Freunde.
Draußen zieht die Landschaft wie ein Film an uns vorbei. Wie das wohl ist, einmal auf den weiten, grünen Wiesen toben zu können? Babe scheint sich dieselbe Frage zu stellen, denn als ob sie meine Gedanken lesen könnte, blickt sie mir eindringlich in die Augen und überlegt:
„Du, Toby? Glaubst du wir werden irgendwann auch mal so glücklich und frei wie die Tiere da draußen sein können?“
Ich kenne die Antwort selbst nicht.
„Mach dir keinen Kopf, die fahren uns bestimmt auf einen dieser Höfe mit viel Platz, leckerem Futter und ganz netten Menschen. Du wirst schon sehen“, lüge ich sie an.
Die Fahrt wird mehr und mehr zum Höllenritt. Aus Sekunden werden Minuten und aus Minuten Stunden, die sich bis in die Unendlichkeit ziehen. Ich bin mit den Nerven am Ende und völlig ausgelaugt. Langsam aber sicher kehrt auch Ruhe in die restliche Schweine-Bande ein, sodass Babe und ich erschöpft zusammensacken. Ihr Köpfchen lehnt an meinem und für einen kurzen Augenblick kann ich die Unruhe und Angst, die ich den ganzen vergangenen Tag über gespürt habe, vergessen.
Plötzlich öffnet sich die monströse Laderampe mit einem Donnerwetter. Im selben Augenblick brechen um mich herum ausgelassene Freude und Jubel aus,
„juhu! Endlich sind wir da!“
Ein hängebauchiger Eber grunzt munter und neben mir drehen sich zwei Ferkel vergnügt im Kreis, „es ist so weit! Wir sind am Bauernhof!“
Ich verstehe nicht ganz, warum sich die anderen Laster-Passagiere so freuen, aber ihre Begeisterung ist ansteckend und ich kann nicht anders, als mitzujauchzen.
„Irgendetwas ist doch faul hier“, bekundet Babe misstrauisch. Sie ist ganz und gar nicht in Feier-Laune.
„Du spinnst doch! Wir haben’s endlich geschafft! Zieh’ mal nicht so eine Schnute“, gebe ich zurück. Wahrscheinlich ist sie nur müde, das ist alles.
Doch wie aus dem Nichts werde ich von zwei riesengroßen Pranken gepackt.
Auf einmal weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich strample um mein Leben, quieke, schlage aus – nichts scheint zu wirken. Mein Entführer hält mich stramm und unnachgiebig in seinen groben Händen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Babe hinter mir und dem Mann, der mich in seiner Gewalt hat, herrennen. Jede Rettung kommt zu spät: Auch sie wird gewaltsam vom Boden gepflückt.
„HÖRT MICH DENN KEINER?! DAS IST EIN HINTERHALT!!!“, versuche ich, die anderen zu warnen.
Wir kommen letztendlich zu einem sterilen Raum am Ende des Flurs. Die Tür schließt sich hinter mir. Sie ist aus Stahl: massiv und undurchdringlich. Was auch immer jetzt passieren würde, es würde für immer ein Geheimnis zwischen mir und dem Grobian bleiben.
Schritte nähern sich.
Ein ohrenbetäubender Knall.
Das Licht geht aus.
Stille.