Als am 2. November 2020 ein islamistisch motivierter Terrorist in der Wiener Innenstadt ein Sturmgewehr zieht und beginnt, auf Menschen zu feuern, auf Menschen, die nichts Böses geahnt haben, die friedlich getrunken, gegessen und geplaudert haben, bricht für neun Minuten Chaos aus. Etwas, was in diesen neun Minuten auch einbricht, ist das Sicherheitsgefühl vieler Menschen, die Unbeschwertheit und Sorglosigkeit, mit denen sie bisher zwischen Schwedenplatz und Stephansdom hin und her spaziert waren.
Nach nur neun Minuten ist es vorbei, der Attentäter erschossen. Doch was viel langfristigere Folgen hat, sind die psychischen, die gedanklichen Folgen dieses zweiten Novembers. Wie viele Menschen, die vorher nie darüber nachgedacht hätten, überlegen jetzt am Weg zum Supermarkt, in der U-Bahn, beim Joggen, was sie wohl machen sollten, wenn vor ihnen auf einmal jemand eine Waffe zieht und losballert? Versteckt man sich? Flüchtet man? In nur neun Minuten hat der Terrorist das erreicht, wovon Regierungen und Werbeagenturen nur träumen können: Er hat jeden einzelnen Menschen in Wien, in Österreich, vermutlich sogar in Europa imprägniert, mit einem Nachflimmern des Mündungsfeuers in Millionen von Köpfen und Herzen.
Zwei Dutzend Menschen werden verletzt – vier überleben die Nacht nicht.
Im Nachhinein wird bekannt, dass die österreichischen Behörden seit geraumer Zeit von der Gefährlichkeit des erschossenen Schützen wussten, dass er sogar vom Verfassungsschutz überwacht worden war. Um das Massaker zu verhindern, ist allerdings nicht schnell genug gehandelt worden.
Als am 31. Dezember 2019 bekannt wird, dass in der zentralchinesischen Stadt Wuhan mehrere Fälle einer neuartigen, noch unbekannten Lungenkrankheit aufgetreten sind, ahnt noch kaum jemand, dass diese kurze Nachrichtenmeldung der erste Vorbote der bisher vielleicht größten weltweiten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ist. Innerhalb weniger Wochen sind zahlreiche Fälle auch im Ausland bekannt, rasend schnell verbreitet sich das Virus, rasend schnell tötet es.
Bis mehr als ein halbes Jahr später die ersten Hoffnung verheißenden Meldungen von wirksamen Impfstoffen kommen, haben sich schon zig Millionen angesteckt. Was wohl noch viel langfristigere Folgen als die unmittelbaren Infektionen und damit verbundenen oft tragischen persönlichen Schicksalen haben wird, sind sowohl die psychischen als auch die wirtschaftlichen Folgen. In wenigen Monaten hat sich die Welt und das, was wir alle als Alltag gekannt haben, auf den Kopf gestellt. Menschen isolieren sich, müssen sich isolieren, werden arbeitslos, vereinsamen in einer ohnehin vereinsamenden Gesellschaft, werden depressiv. Die Coronakrise wird, selbst wenn jetzt die Impfung kommt, noch jahrelang ihre Folgen wie schwarze Fühler weltweit durch Städte und Staaten, Gesellschaften und Einzelschicksale bohren.
Mehrere hunderttausend Menschen sind an einer Infektion mit Covid19 bereits verstorben, exklusive Dunkelziffer und den kommenden Monaten.
Im Nachhinein wird bekannt, dass die chinesischen Behörden seit geraumer Zeit von der Existenz des unbekannten Erregers wussten, dass sie sogar aktiv versucht haben, das öffentliche Bekanntwerden davon zu unterdrücken, bis hin zur Bedrohung von Ärzten. Um die weltweite menschliche, gesundheitliche, psychische und wirtschaftliche Krise zu verhindern, konnte unter anderem deswegen dann nicht schnell genug gehandelt werden.
Als vor mehreren Jahrzehnten die ersten ForscherInnen anfingen, vor den langfristigen Folgen menschlicher Handlungen auf Umwelt und Klima zu warnen, ist erst einmal nicht viel passiert. Die Winter waren nach wie vor kalt, die Sommer warm, die Autoproduktion ertragreich und die Teak-Möbel prachtvoll im Wohnzimmer. Die, die überhaupt etwas vom sogenannten anthropogenen Klimawandel mitbekamen, hat es großteils nicht interessiert. Das hat sich mittlerweile geändert. Klimabewusstsein und Ökostrom, Greta Thunberg und Solaranlagen, erneuerbare Energien und Wasserkraft sind Inhalt alltäglicher politischer und gesellschaftlicher Debatten. Die Sommer werden heißer, die Winter weniger kalt, so sehr, dass man es sogar schon persönlich merkt. Wenn man weiterschaut, wird man merken, dass das Artensterben zugenommen hat, dass Flächen in der Größe von millionen Fußballfeldern jährlich abgeholzt werden; dass Korallenriffe sterben und Umweltkatastrophen zunehmen; dass die Meeresspiegel steigen und die Gletscher schmelzen.
Und es hat noch nicht einmal so richtig begonnen. Während die Welt symbolisch-nutzlose thoughts and prayers sendet und sogar der angehende US-Präsident den WienerInnen sein Beileid ausdrückt, während die EU vier Tote nutzt, um Überwachungsmöglichkeiten zu verschärfen, wird man als kalt bezeichnet, wenn man angesichts emotional getroffener -persönlich betroffener- Menschen darauf hinweist, dass etwas viel, viel Schlimmeres in naher Zukunft geschehen wird, und es dann alles andere als kalt sein wird.
Während Lockdowns und Betriebspleiten, während Pressekonferenzen, Bilder von Massengräbern und überlaufenen Krankenhäusern die Nachrichten überschwemmen, wird gerne verdrängt, dass bald etwas ganz anderes überschwemmt werden wird, und zwar der verdammte Planet.
Abermillionen Menschen, letztendlich über globale Vernetzungen alle acht Milliarden auf der Erde, sind betroffen oder werden es bald sein. Es drohen Dürren und Fluten, Überschwemmungen und Hungersnöte, Flüchtlings- und Hitzewellen, Artensterben, Kollaps von Ökosystemen, Aussterben von mehr und mehr Spezies für immer.
Ein Nachhinein ist noch nicht einmal am Horizont auszumachen. Seit geraumer Zeit weiß die Menschheit um die Tatsachen, weiß, was nötig wäre. Und um Zustände zu verhindern, die die Coronakrise, was Leid und Tod betrifft, um Längen in den Schatten stellen werden, muss JETZT gehandelt werden – auch wenn oder gerade OBWOHL der Klimawandel im Gegensatz zu anderen Krisen (noch!) nicht jedem/r von uns persönlich spürbare Folgen verursacht hat.