Eigentlich sollte man Veganer sein. Man sollte nur lokal angebaute Produkte kaufen, überhaupt am besten nur Rohkost, und die sollte Bio und CO2-neutral sein. Für Kuhmilch sollte man schon mal tiefer in die Tasche greifen, der unterbezahlten Milchbauern wegen, und außerdem sollte man statt Kuhmilch Pflanzenmilch kaufen, und zwar aus Hafer, denn Sojamilch ist keine Option mehr: Sojaanbau stellt einer der größten Gründe für systematische Abholzung dar. Der Anbau von Hafer führt natürlich zu höheren CO2-Emissionen als beispielsweise der von Mandeln. Dafür benötigt ein Liter Mandelmilch mehr als das doppelte an Wasser in der Produktion. Außerdem wachsen Mandeln nur am anderen Ende der Welt. Da kann man wieder nicht lokal einkaufen.
Und Ernährung ist nur der Anfang. Weiter geht es mit Müll: Ein Durchschnittsdeutscher verbraucht in seinem Leben 136 Zahnbürsten, das bedeutet, bis auf die allerletzte wirft er 135 von ihnen in den Müll (der schlimmstenfalls nicht einmal getrennt wird). Außerdem verbraucht er laut Statistik jedes Jahr 485 Strohhalme, das sind 1,3 am Tag.
Und da wird man doch stutzig. Natürlich kann man nicht jede Statistik auf sich selbst anwenden, aber 1,3 Strohhalme am Tag? Ich kenne kaum jemanden, der auch nur wöchentlich einen ganzen Strohhalm auf dem Gewissen hat. Wenn die Zahlen also stimmen, frage ich: Wer verbraucht die ganzen Strohhalme? Gibt es einzelne Deutsche, die tollwütig am Tag mehrere hundert Strohhalme kaufen und in den Müll schmeißen und dadurch die Statistik verzerren? Oder ist es vielleicht gar nicht das Individuum, das hierfür verantwortlich ist?
Nach Sartre ist der Mensch zur Freiheit verurteilt. Mit diesem eindrucksvollen, doch zunächst wirr klingenden Satz drückt der Existentialist einen der Kernpunkte seiner Philosophie aus: Indem wir, wenn auch noch so sehr durch materielle oder systematische Umstände beeinflusst, jede (Nicht-)Handlungsentscheidung selbst treffen, besitzen wir eine intrinsische Freiheit. Und in eben jener finden wir eine Verantwortung: Dass wir nämlich vor jedem weltlichen Ding, dessen Existenz wir uns bewusst sind, entscheiden müssen - handle ich oder handle ich nicht? Und so wird die Freiheit uns zum Urteilsspruch, da man sich ihr nicht entziehen kann.
Sartre spricht von einer Verantwortung, die zunächst überwältigend wirkt, doch wichtig ist, anzuerkennen. Er spricht nicht von Schuld. Er spricht davon, dass man sich über seine Verantwortung bewusst sein soll, sich klar machen, dass man alles tun, alles verändern könnte, solang man nur die Entscheidung dazu träfe, und schließlich steht man vor genau dieser Entscheidung. Doch, und das ist ebenso notwendig, zu verstehen, in dieser allgegenwärtigen Verantwortung trifft einen noch immer keine Schuld.
Bezogen auf das dringliche Thema des Klimawandels bedeutet das: Es gibt keine faulen Ausreden mehr. Wir müssen Verantwortung übernehmen für das, was wir tun und lassen, und wir sollten es auf eine Weise tun, dass wir uns selbst noch in die Augen schauen können. Es ist nicht die Pflicht des Einzelnen, nur noch Bioprodukte zu kaufen, wenn die individuellen Ressourcen es nicht zulassen. Es ist aber seine Pflicht, dies ehrlich zu beurteilen, über den Horizont hinauszudenken. Das heißt: Vielleicht muss Milch nicht weniger als fünfzig Cent kosten. Vielleicht muss man nicht ständig Auto fahren. Vielleicht kauft man seine Kleidung auch mal Second-Hand und denkt beim Einkaufen daran, eine eigene Tüte mitzunehmen. Vielleicht kann man auf einen Plastikstrohhalm verzichten.
Beim Überfliegen anderer Einreichungen ist mir aufgefallen, wie konsequent die allermeisten jungen Autoren unter uns dazu anhalten, mit dem Planeten besser umzugehen. Und ihr Appell ist gerechtfertigt - es ist keine Meinungsfrage mehr, ob Klimaschutz nötig ist, es ist schon längst eine Sache der Wissenschaft, Meinungsfrage ist nur noch, wer dafür letztlich verantwortlich ist.
Und hier möchte ich einen heutzutage ebenso wichtigen Kernpunkt des Verantwortungsgedankens ansprechen. Man muss die Schuld bei den Schuldigen suchen.
Sartre erklärt einwandfrei die Verantwortung des Einzelnen. Doch noch immer frage ich mich, wo die ganzen Strohhalme verloren gehen.
Vielleicht ist es an der Zeit, den Blick nach oben zu richten, statt auf unseren Nachbarn. Vielleicht muss nicht jeder Veganer sein, sondern stattdessen fragen: Warum gibt es keine ethische Tierzucht? Vielleicht darf man auch mal eine billigere Milch kaufen, solang man fragt: Warum sehen die Bauern nichts vom Geld? Und wer schmeißt die ganzen Strohhalme weg, wenn es weder du noch ich sind?
Vielleicht hat der Kapitalismus es am Ende doch wieder geschafft. Uns gegeneinander aufgebracht und gekonnt von sich selbst abgelenkt. Vielleicht sind es nicht die Geringverdiener, die Grillliebhaber, die beruflichen Langstreckenflieger, die Schuld am Verschleiß unserer Welt sind. Vielleicht sind es die Konzerne, die genau wissen, dass sie ihre Preise nicht senken müssen, solang wir nur übereinander herfallen. Die nach Jahren dann doch eine vegane Alternative anbieten, zu PR-Zwecken, und daran Millionen verdienen, die sie ganz bestimmt auch in eine ethischere Produktion der gleichen, alten Produkte investieren könnten - doch der nächste Superfoodtrend ist nur Wochen entfernt.
So müssen wir aufschauen zu den Riesen, denn sie sind es, die die Strohhalme kaufen, um sie wegzuwerfen, die die Milchbauern unterbezahlen und die Wälder abholzen, und wir müssen von ihnen Verantwortung fordern, immer und unermüdlich. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, ja, doch irgendjemand gewinnt im Kapitalismus immer, und es ist weder der Kunde noch der Planet. Da, wo die große Maschine will, dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen, gibt es bewegliche Zahnräder, Möglichkeiten, etwas zu verändern - über die Politik, Aufklärung und nicht zuletzt über Eigeninitiative. Doch letztlich sind es nicht die Menschen gegeneinander. Es sind Wir gegen das System.
Und wir müssen zusammenhalten, um die Welt zu verändern.