Valea atmete tief ein, fühlte die Wärme und schmeckte die Luft. Mild und herb, doch ein bisschen süßlich. Die Sonne schmeichelte ihrer Haut und verlieh ihr einen goldigen Schimmer. Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des Mädchens. Alles um sie herum erblühte. Das Lächeln wurde zu einem Freudestrahlen, denn Valea war es, die die Pracht erschuf. Durch ihren Willen reiften Felder und öffneten sich Blüten. Viele verschiedene Farben prägten das Land bis zum weit entfernten Horizont.
Zufrieden setze sie sich in ein Feld aus Wildblumen und betrachtete die kleinen fleißigen Wesen, die die Pracht ebenso genossen wie sie. Sanft brummend flogen sie von einer Blume zur nächsten. Da begann sie zu lachen und konnte es nicht mehr zurückhalten. Ja auch für die fleißigen Helfer um sie herum, hatte sie die Flächen so gestaltet.
Es hatte lange gedauert und war auch nicht leicht gewesen, doch nun hatte Valea es geschafft! Sie hatte gelernt ihre Fähigkeiten einzusetzen, sodass es ihr nun mühelos von der Hand ging. So gelang es ihr täglich, weitere Pflanzen zu kreieren und sprießen zu lassen.
Erfüllt vom Glück ließ sie ihren Blick erneut schweifen. Die Hügel noch mit Tau bedeckt, glänzten wie Smaragde. Die Wälder am Rande der Felder hatten wunderschöne Nuancen aus grün und rot. Die Vielfalt der Blumen und Gewächse ließ Valeas Herz schneller schlagen. Doch erst der Fluss, der sich durch das Land bahnte und sich in zwei Bächen spaltete, machte es perfekt. Mit der Explosion an Farbsprenkeln um sie herum, war das ruhige Türkis der Ausgleich. Ein Gleichgewicht.
Wie so oft blieb der Blick des Mädchens an dem rauschenden und plätschernden Wasser hängen. Das Spiel der bewegenden Oberfläche und des Sonnenlichts beruhigte sie. Und der Wechsel der klaren Durchsicht und der Schlieren des Wassers faszinierte sie. Wie an jedem Tag, ging Valea zum Wasser und legte die Fingerspitzen auf die Oberfläche, bis sie die Hand darin eintauchte. Das Spiel mit dem klaren Nass wurde erst unterbrochen, als sie gerufen wurde.
Naira stand am Rande eines goldenen Feldes und rannte zu ihr. Lachend rannte sie ihrer Schwester entgegen und streckte die Arme aus. Naira fiel ihr, mit dem jüngsten Kind ihrer Familie, in die Arme. Ihre Geschwister haltend, war das Geschaffene perfekt. Die wunderschöne Haut ihrer Schwester und die hellen strahlenden Augen des Kleinkindes betrachtend, kamen Valea die Tränen. Sie hatte ihr Ziel erreicht, nur das zählte. Valea konnte ihre Familie versorgen. Und genau das, spiegelte sich in den strahlenden Gesichtern ihrer Geschwister wieder. Wie dieses Lachen klang, würde Valea wohl nie vergessen.
Im nächsten Moment liefen ihr die Tränen über die Wange und Valea wollte daran festhalten. Noch immer hörte sie das Lachen. Doch Ihre Augen öffneten sich, wie auf einen fremden Befehl hin.
Es war jedes Mal ein Schrecken. Konnte diese Welt wirklich jeden Tag etwas grauer werden? Oder bildete sie sich dies nur ein? Valea zwang Ihre Augen zu jenem Paradies zurück, doch die Erinnerungen waren zu stark, als dass sie es hätte ausblenden können.
Also öffnete sie widerwillig die Augen. Sie wollte sich nicht umschauen und dennoch tat sie es. Jeden Tag aufs Neue. Grauer Himmel, wie eine finstere Wolkendecke. Ein wütender Horizont, soweit das Auge reichte und noch weiter. Keine schützenden Hügel oder Berge, alles war ganz flach. Jeder Strauch war dürr und trug weiße kleine Pompons. Doch da waren kaum andere Pflanzen. Da war nur das kleine Haus ihrer Familie umgeben von nichts als Baumwollfeldern. Valea würde sich bestürzt mit ein wenig Unkraut zwischen den dornigen Ästen begnügen müssen.
Die Welt vor ihr verschwamm und verblasste schließlich. Valeas Tränen waren die einzige Flucht von den kargen Feldern. Wie sehr sie sich wünschte, ihr Augenlicht würde für immer verschwimmen. Oder wenigstens für wenige Minuten, Sekunden. Sie verschloss den Wunsch aus Loyalität. Ihrer kleinen Naira wollte sie dies nicht zumuten. Wann immer sie konnte, nahm sie ihrer Schwester die Arbeit ab. Das war alles, was sie für ihren einzigen Schatz tun konnte.
Doch in ihren Träumen, war sie ihren Wünschen so nah. Selbst wenn diese so unerreichbar waren. Die Träume waren ein Trugbild, wie eine Fata Morgana, geschaffen für ihre Motivation. Sie hatte alle Farben kennengelernt. Jetzt zu erblinden, die Erinnerungen verblassen zu lassen und in den Tagträumen zu leben, wäre ein Segen. Wenn doch bloß ihre Schwester zur Schule gehen könnte. Valea hätte alles für Nairas Zukunft getan. In ihren Träumen, die nicht von der Farbenpracht handelten, sah sie ihre Schwester in einem kleinen Büro sitzen, freundlich mit irgendwelchen Kollegen oder Kunden telefonierend. Sie sah Naira in dem Leben, dass sie selbst geopfert hatte.
Jedoch brachten diese Gedanken sie jetzt auch nicht weiter. Sie sollte froh sein, überhaupt Träumen zu können und die Farben dieser Welt gesehen zu haben, dachte Valea. Sie machte sich wieder an die Arbeit, bemüht nicht zu verschwenderisch mit dem chemischen Wasser für die Pflanzen zu sein. Ob die Ernte dieses Mal ausreichen würde? Wie lange konnten sie die Helfer wohl noch beschäftigen? Wäre es wieder unumgänglich, dass ihre erkrankte Mutter auf den Feldern arbeiten müsse, so wie in den vergangenen Jahren? Oder Naira?
„Valea.“ Jemand rief nach ihr. Es war ihre Schwester. Naira stand nicht unweit vom Haus entfernt. Ihre Stimme war gerade laut genug gewesen, um gehört zu werden, doch monoton und ausdruckslos. Valea ahnte es und sah ihre Tränen zum öden Boden fallen. Dann ging sie zu ihrer kleinen Naira, die so viel reifer wirkte als sie sollte. Naira weinte nicht mal. Regungslos verarbeitete sie, was im Haus geschehen würde und wie ihre Kindheit nun wohl beendet war.
Die Frage nach dem WARUM hatte sie längst aufgehört zu ergründen. Warum ihnen solches Leid widerfuhr. Warum ihnen keiner zu Hilfe kam. Warum all dies von ihnen und anderen Familien verlangt wurde.
Valea nahm Naira an sich. Eine Weile sahen sich die Mädchen an. Valea war noch nicht fähig zur Trauer oder zur Wut. Sie betrachtete nur die Vorboten, die weißen Sprenkel auf der bronzenen Haut. Die Sprenkel, die sie alle prägten. Flecken, die weder natürlich noch gesund waren. Die Krankheit an der ihre Mutter nun sterben würde.
Die Schwestern sahen sich an. Sie waren so bereit, wie es zwei Mädchen nur sein konnten. Arm im Arm gingen sie ruhig zum Haus.