Hoffnung aus Staub

Einsendung von Jona, 20 Jahre

Ich liege neben Lilith im Gras. Zumindest liegen wir in dem, was man heute Gras nennt. Es hat nichts mit diesen grünen Flächen zu tun, die wir auf Bildern in der Schule sehen: unser Gras ist braun und trocken, aber immerhin gibt es hier noch Gras. Bei einer Reise in den Süden habe ich Ecken gesehen, die durch und durch grau und sandig waren. Als ich wieder zurück kam, habe ich jeden Baum gegossen, den ich sah. Ich hatte dann selbst nichts mehr zu trinken und schreckliche Kopfschmerzen, aber das kannte ich ja.
"An was denkst du?" Lilith schaut mich von der Seite an.
"An nichts Besonderes"
Er nickt und schaut wieder in den zu blauen Himmel.
"Kannst du dir vorstellen, was Oma gesagt hat? Dass es früher oft regnete und Wasser in Strömen vom Himmel fiel?"
Ich lächle. Ach Lilith. Er sollte nicht so viel nachdenken, diese Zeiten würden nicht wieder kommen. "Naja, wenn Oma es sagt, wird's wohl stimmen. Aber sie meinte ja auch, dass es mal kalt wurde einmal im Jahr. Das kann ich mir nicht vorstellen."
„Bitte versuch es dir vorzustellen. Wir gehen raus und da ist alles weiß!“, er breitet die Arme aus, um zu zeigen, viel viel Schnee liegt. „Danach gehen wir in den Wald und um uns herum singen Vögel und da sind Tiere und es riecht nach nasser Erde.“
Ich schließe die Augen und versuche mir den Geruch vorzustellen. Nasse Erde habe ich ewig nicht mehr gerochen.
Lilith hustet und atmet schon wieder schwer.
„Du sollst nicht immer so viel reden.“, sage ich und streiche ihm übers Haar. „Du weißt doch, dass das nicht gut ist für dich.“
„Aber es ist so eine schöne Vorstellung und vielleicht wird es“, er holt Luft. „wahr, wenn ich es oft genug sage.“
Sanft lächle ich. Vielleicht war ich in seinem Alter genauso ein Träumer, aber mittlerweile nicht mehr. Es wird nicht besser, wie denn auch? Unsere Luft ist so schlecht, dass mein kleiner Bruder schon vom Reden Asthmaanfälle bekommt, und die Flüsse vergiftet. Dennoch steckt mich Liliths Euphorie wieder an.
„Komm mal mit, ich will dir was zeigen.“, sage ich und stehe auf.
Mit großen Augen sieht Lilith mich an. „Was denn?“
„Überraschung.“
„Och sag bitte!“ Er schiebt seine Unterlippe vor.
„Siehst du dann!“
Gemeinsam gehen wir durch Straßen, in denen sich der Müll stapelt. Es riecht muffig und feucht. Immer wieder schaue ich zu Lilith, gucke, was diese schlechte Luft mit ihm macht und ob wir langsamer gehen müssen. Er hüpft gespannt wie ein Flummi neben mir her.
Ich grinse. Das, was ich ihm zeigen will, wird ihn umhauen. Ich kann es selbst kaum glauben und hoffe, dass mir meine Augen keinen Streich gespielt haben.
Wir kommen in den Wald. Es ist eine kleine Ansammlung von Bäumen, knorrig und nie wirklich grün, aber immerhin ist es ein Stückchen Natur. Früher soll es überall diese Wälder gegeben haben, mit vielen Bäumen, doch die sind alle gefällt worden, für Straßen und Fabriken, die niemand wirklich brauchte. Nun stehen sie wieder leer, wie Skelette, aber der Wald kommt nicht mehr zurück.
„Wie weit ist es denn noch?“, reißt mich Lilith aus meinen Gedanken.
„Nicht mehr weit“
Ich zeige auf einen kleinen Hügel. Er sieht aus wie ein Müllberg, doch an einer Seite ist eine Höhle und genau die möchte ich Lilith zeigen. Wir steigen über alte Maschinenteile und anderen Müll, der einfach hier abgelegt wurde. Im Wald, wo er niemanden stört. Liliths Hose bleibt überall hängen und er stolpert. Ich überlege, ob ich ihn tragen soll, aber dafür ist er zu groß.
Der Eingang zur Höhle ist etwas versteckt hinter Fässern, aber trotzdem finde ich ihn wieder. Ich gucke mich um, ob uns niemand gefolgt ist. Dann gehe ich als Erste hinein, gucke, ob der Weg für Lilith frei ist. Aus meiner Hosentasche hole ich eine kleine Taschenlampe und leuchte den Weg ab: alles wie beim letzten Mal. Dann winke ich meinen Bruder zu mir. Seine Schuhe knistern im Laub. Der Weg wird erdiger, Wurzeln ragen aus der Decke zu uns. Nach ein paar Metern sehen wir Licht vor uns.
„Was ist das?“ Lilith zieht mich am Arm vorwärts.
Vor uns scheint alles erleuchtet zu sein. Lilith holt einmal tief Luft, dann biegen wir um die Ecke. Sein Mund klappt auf und auch ich bin wieder überrascht.
Wir werden geblendet von Grün: Gras auf dem Boden, Pflanzen wachsen an den Wänden und von der Decke. Sogar ein paar Bäume stehen in kurzen Reihen. Wir stehen staunend nebeneinander. Lilith kniet sich auf den Boden. Er berührt vorsichtig die Grashalme, als hätte er Angst, dass sie ihn beißen. Immer wieder streicht er über die Spitzen, bevor er endlich die ganze Hand auf den Rasen legt.
Er springt auf, rennt über das Gras. Ich werde von seiner Freude angesteckt, gehe selbst ein paar Schritte, dann laufe ich. Wir rennen durch diese scheinbar endlose Höhle, riechen an Blumen und streichen über Blätter.
„Komm mal!“, ruft Lilith.
Er steht vor einem großen Baum, an dem viele rote Dinger wachsen. Ich glaube, sie heißen Kirschen. Oma hat mal ein Bild davon gezeigt. Schneller, als ich irgendwas sagen könnte, ist Lilith auf den Baum geklettert und hat sich ein paar dieser Früchte genommen. Er steckt sie in die Hosentasche und kommt zu mir herunter. Freudestrahlend hält er mir eine hin und ich nehme sie an. Die Schale fühlt sich glatt an, fast wie Plastik. Langsam drehe ich sie in der Hand. Können wir das einfach so essen? Vielleicht ist es giftig und -
Zu spät. Lilith hat sich eine Kirsche in den Mund gesteckt und kaut. Es scheint gut zu schmecken, denn er steckt gleich die zweite hinterher.
Auch ich nehme die Kirsche vorsichtig in den Mund. Ich beiße darauf und erwarte Saft, der mir auf die Zunge läuft wie bei einem geplatzten Wasserkanister, doch stattdessen ist es staubig. Ich spucke und versuche, das Zeug aus meinem Mund zu kriegen.
Mit einem lauten Husten werde ich wach. Lilith hockt neben mir und klopft mir auf den Rücken.
„Zum Glück bist du wach geworden.“, sagte er besorgt. „Es ist nicht gut, schlafend zu husten, sagt Oma immer.“
Ich schaue ihn nur traurig an. Es war nur ein Traum. Es gibt keine Höhlen mit grünen Bäumen, nur verödetes, trockenes Land.

Autorin / Autor: Jona, 20 Jahre