Vogelperspektive

Einsendung von Helena Frida Michalski, 12 Jahre

Irgendwo im Nichts – irgendwo dort, wo es doch etwas gab – irgendwo da, wo es aber trotzdem Licht gab, wo es sogar eine Welt gab. Dort, wo es Leben gab, dort, ja dort, wo hohe Bäume in den Himmel ragten und die Natur seit Jahrmillionen ihren freien Lauf hatte. Gab es diesen Ort überhaupt – wird man sich vielleicht fragen. Ich werde aber schon vorweg andeuten, wo dieser Ort war.
Nicht in fernen Wäldern in Russland oder im Regenwald, aber doch an einer Stelle, die auf keiner Karte so genau zu beschreiben ist. Die vielen Tiere, die dort lebten, hätten diesen Ort wahrscheinlich wie folgt beschrieben: „Dort, wo die reine Natur war, wo hauptsächlich Buche an Buche dicht an dicht in der Nähe von einem umgefallenen Baumstamm stand, wo es eigentlich keinen Weg oder Pfad gab und sich auch niemand bisher hierhin verlaufen hatte.“

An diesem Ort, wo Buche an Buche dicht an dich stand, passierte gerade dort etwas sehr Schönes. Etwas, was schon so manches Herz dahinschmelzen lassen würde. Dort, in dem so wunderschönen Wald, hörte man ein leises Knacken. Und kurz darauf öffneten sich gerade zum ersten Mal ein Paar Augen in einem Nest hoch oben in einer Buche. Ein neues, kleines Leben kam in die dort so schöne Welt. Sorgenfrei und noch so unschuldig klein blickte dieses Wesen umher, wo alles noch so neu für ihn war. Dort, wo die großen Bäume kaum einschüchternd auf den noch so kleinen Vogel wirkten. Ein Geräusch von flatternden Flügeln breitete eine merkwürdig beruhigende Stimmung aus. Ein noch sehr leises piepsiges Kreischen ertönte. Es verstummte aber, direkt nachdem ein großer schwarzer Vogel einen Wurm in den Schnabel des so kleinen weißen Kükens fallen ließ. Dort, wo sorgenfrei auch ein kleines Geschwisterchen gerade etwas bekam. Ja, sorgenfrei lebten sie hier. Die warmen Maitage und Nächte zogen vorbei und alles war gut. Die zwei kleinen, die bald groß wurden und das Nest verlassen konnten, wurden auf die große weite und vor allem gefährliche Welt vorbereitet.

Geschichten von der Welt, wie sie ihre Eltern erlebt hatten, wanderten von Schnabel zu Schnabel. Sie erzählten von den Reisen um den halben Globus, aus den langsam sich auskühlenden Regionen und über die verschiedensten Gebiete, wo nicht selten Feuchtwiesen und andere Nahrungsorte zu finden waren. Soweit das Auge reichte - bis an die Oasen in den Savannen. Aber auch die gefährliche Seite der auch noch so grausamen Welt wurde erwähnt. Von den Wesen, die ihnen gefährlich werden konnten. Dass sie sich vor allem vor den auf zwei Beinen stehenden Wesen, die sich selbst als Menschen oder sogar als sehr intelligente Lebensform bezeichneten, in Acht nehmen sollten. „Oder waren diese Menschen nicht einfach nur für alle Wesen gefährlich?“ „Ja,“ dachte sich der schon mittlerweile größere Vogel mit schwarzem Gefieder.

Die Zeit verging, der Sommer neigte sich dem Ende zu und die Wege dieser kleinen Familie trennten sich bald. Die Orte, wo ihm beigebracht wurde nach Futter zu suchen, verschwanden. Riesige Maschinen, von Menschen gebaut, zerstörten sein Nest, seine ganze Welt. Ja, sogar seine Familie starb unter den Trümmern des eigenen Waldes – was er aber nicht wusste, denn er erkannte sie nicht mehr.
Von dem Schock, sein eigenes Zuhause durch die gierigen Menschen verloren zu haben erstarrt, schwor er sich, den Worten seiner Eltern zu folgen: Immer darauf zu achten, sich vor den auf zwei Beinen laufenden Lebewesen, fernzuhalten. Sich ein neues Zuhause zu suchen schien sinnlos, denn seine innere Uhr schlug zu. Er musste losfliegen! Zu einem unbekannten Ort. Er wusste nur, wohin er den nächsten Flügelschlag setzen musste. Der schwarze Vogel flog los, über den halben Globus. Dorthin, wo seine Eltern ihm zwar erzählt hatten, dass es an diesem Ort viele Feuchtwiesen gab, er aber häufiger nur Flächen von Menschen antraf. Dies führte nicht nur manchmal dazu, dass er stark hungerte. Angekommen in einem riesigen Baum in der Nähe einer kleinen Oase, überkam ihn Durst. Als das warme Wasser durch seinen Körper strömte, hörte er ein lautes Geräusch von der Seite kommen. Er hörte nur noch das panische Losflattern anderer Vögel, als ihm ein stechender Schmerz durch seine dünne rechte Kralle fuhr. Ein Licht tauchte vor ihm auf. Er versuchte sich zu bewegen, doch zwei befestigte Seile hielten ihn fest. Wo war er? Wie war er hierhin gekommen? Das alles wusste er nicht. Schritte hallten durch den Raum. Unregelmäßig. Als ob jemand ein Bein nachzieht. Panik breitete sich in seiner Brust aus. Waren es die auf zwei Beinen laufenden Lebewesen? Ja, waren sie! Eine Hand hielt ihn fest. Er versuchte sich aufzurichten, doch kippte sofort wieder um. Ein Teil seines Beines fehlte. Der Schmerz biss sich durch seinen geschwächten Körper bis in die letzte Spitze seiner Flügel.

„Wenn das der Tod war, war er schlimm!“ Eine merkwürdig unruhige Gewissheit breitete sich in seinen Gedanken aus. „Was war nur mit der Welt los? Konnte er nicht am Leben bleiben?“ Der einst so mutige Vogel empfand Angst. Durch den Raum hallte ein Klicken auf den noch ein anderes nachhallte. Seine Gedanken ihn nicht mehr lange an das so schmerzvolle Leben hielten. Er sah seine Familie, sein Zuhause – ruhig, vertraut. Genauso fern wie nah es einmal war. Der Blick verschwamm und seine Augen ihren Nutzen verloren. Er hatte doch noch so lange zu leben. Der letzte Moment ihn noch hielt. Würde er überhaupt noch leben wollen? In dieser Welt, wo ein anderes Wesen so wenig über ihn wusste und doch direkt und indirekt über ihn entschied. Sollte er froh sein? Bald rauszukommen aus dieser sowieso schon zerstörten Welt? Seine letzten Gedanken wie weggewischt waren, doch durch das Ganze ein klarer Gedanke schien. Nur einer, wirklich nur einer, als er spürte, es war zu Ende. Diese Welt war am Ende.