Auszug aus meinem Alltag
Einsendung von Rebecca Möbius, 20 Jahre
Ich strecke mich. Es ist stockfinster um mich herum. Neben mir höre ich einen Cs-137 vor Schmerz keuchen. Er scheint wieder Probleme mit seinen inneren Bränden zu haben. Cs-137 ist etwas kleiner und schmaler als ich, der mehr der stämmige Typ ist. Er tut mir zwar leid, aber Hilfe oder ähnliches möchte ich dennoch nicht anbieten. Seine gesamte nähere Familie teilt sein Leid. Und sie sind nur eine von vielen. Wir nennen sie alle Cs-137. Unsere entfernten Verwandten tragen Verbrennungen am ganzen Körper und stehen hier noch symbolisch für das Unglück – oder das Verbrechen, wie man es auch sehen mag. Ich gehe in mich und frage mich, wie es soweit kommen konnte. Ich lebe seit geraumer Zeit auf dieser Erde und habe schon vieles gesehen und vieles erlebt. Über 30 Jahre ist es her, dass zumindest für uns das Unglück seinen Lauf nahm. Wir – wir sind ein Reich, das Hunderttausende vereint, mit vielen räumlich getrennten Gattungen. Ich selbst fühle mich zu diesen jeweils mehr oder weniger zugehörig. In vielen anderen Bereichen begann es sogar noch früher. Ich würde sogar sagen, es begann mit den ersten Fabriken und den ersten Eisenbahnen. 1986 kam es zu dem für uns entscheidendem Tag. Sie sind schuld daran, sie führten das Unglück herbei. Seit dem Unglück ist vieles zerstört. Die Natur und ihre Lebewesen tragen bleibende Schäden, über die nur langsames Gras wachsen kann. Der Gedanke an das Ausmaß des Verderbens vor Jahren macht mich fertig. Ich sehe die Wellen abermals auf mich zukommen, langsam und qualvoll reißen sie meine Freunde und Familie mit sich. Es wird Tag und ich stehe im Wald. Eine winzige Spinne lässt sich von meinem breiten braunen Hut herab und ich spüre wie eine klebrige Nacktschnecke an meinen Füßen knabbert. Nachts hatte es gewittert und die Sonne am Vortag gemeinsam mit dem nächtlichen Regen hat den Buchenwald ähnlich wie in einem Treibhaus feucht aufgeheizt. Ich stehe auf einer Lichtung unter dem löchrigen Kronendach. Die wärmende Sonne streift meinen großen Hut. Um mich liegen einige tote Bäume. Neben viel hellgrünem Farn haben sich auch einige gepunktete Fliegenpilze angesiedelt. Kleine Pflanzen und allerlei Pilzgewächse, wie Maronenröhrlinge, lugen überall hervor und vertrauen auf die schützende Symbiose mit den umstehenden massiven Buchen, beide können ohne die Nährstoffe des anderen nicht überleben. Das Unglück hat es immerhin nicht geschafft, dieses Ökosystem gänzlich zu zerstören, wenn auch einige Schäden entstanden sind. Doch der Wald wird sich erholen, da bin ich mir sicher. Die größere Gefahr sind nicht die entstandenen Schäden, die kilometerweit aus dem Osten herüber geweht kamen, sondern die zukünftigen Schäden, die noch folgen werden, und zwar aus allen Himmelsrichtungen und das aus jeder Entfernung. Dann höre ich sie kommen. Die Stimmen scheinen zwar noch entfernt, aber sie werden im lauter. Sie unterhalten sich über ein Auto, dass sie als hybrid bezeichnen, da es zur Hälfte mit Strom fährt anstatt ausschließlich mit einem Verbrennermotor. Die etwas hellere höhere und vermutlich jüngere Stimme hält einen langen Monolog darüber, wie wichtig, doch Umweltschutz derzeit sei. Die andere dunklere Stimme, die schätzungsweise zu einer Raucherin gehört, stimmt der ersteren zu. Ich schweife ab in meinen Gedanken und sehne mich nach dem Tag zurück, an dem hier noch Ruhe herrschte. Damals sangen hier mehr Vogelarten, knisterten mehr Sorten von Blättern und für noch mehr Tiere war der Maronenröhrling genießbar. Die Mitglieder der Familie der Steinpilze waren allesamt gesund. „Wahnsinn, eine ganze Herde! Da haben wir direkt mal 40 Euro gesammelt“, tönt die helle Stimme, die jetzt immer zu kommen näher scheint. Sie haben die Lichtung entdeckt. Uns trennt jetzt nur noch eine hohe buschige Buche. Ich kann ihre schwarzen Stiefel bereits sehen. Riesenteile mit Blockabsatz und breiter Sohle, die alles niedertrampeln während die dazugehörigen Augen gierig nach ihrem Ziel Ausschau halten. Die größere Person mit der dunkleren Stimme lässt etwas kleines weißes dünnes papierenes fallen und tritt kurz mit der Schuhspitze auf den kleinen Gegenstand. Jetzt haben sie mich entdeckt. Ein breiter Schatten liegt jetzt auf mir. Eine große Hand greift nach mir und dreht meinen oberflächlichen Körper unsanft. Außen bleibe ich stumm, doch innerlich schreie ich – warum ich? Warum kein Cs137? Ihr seid schuld an ihrem Leid! Ich wünsche mir, dass sie auch noch einen meiner Cousins greifen, damit deren brennender Schmerz wenigstens auf ihre Art übertragen wird und sie langsam ausrotten lässt. Endlich. Eine Hand greift nach meinem Nachbarn, der letzte Nacht so gekeucht hatte. Doch meine Wünsche bleiben unbeantwortet. „Nicht den! Das ist ein Maronenröhrling. Die sind hier doch radioaktiv!“, lässt eine Stimme verlauten. Wohin bringen sie wohl meinen Körper? Vermutlich mit ihrem neuen Hybrid direkt in ihre Küche, in der die eine Hälfte direkt im Restmüll landet. Zurück bleibe ich, jetzt bloß unterirdisch, in der wohligen Nähe meiner Symbiose, zunächst, doch dann rieche ich etwas ungewöhnliches. Ein helles loderndes Licht kommt aus der Nähe des kleinen weißen Gegenstands. Das flackernde Licht wächst rasant.
Autorin / Autor: Rebecca Möbius, 20 Jahre