Und betrunken in der Gasse schrie ein junger Mann. Er hasste das Gerede dieser besseren Generation Z und die Suche ihrerseits nach dem, was sie besser macht. Er riss die Plastikflasche einer Jugendlichen aus ihrer Hand und warf sie zornerfüllt auf den zigarettenbedeckten Boden. „Das ist, was ihr seid!“ rief er, zog seine Atemmaske unter das Kinn und spuckte in ihr Gesicht. „Hey, das war eine Ausnahme! In der Schule trinke ich immer aus Glasflaschen!“ Der betrunkene Mann lachte sich tot. Und die Erde lachte sich toter. Der Mann spürte ihre Vibration unter den Füßen. Oder war das Beben nur von dem graffitibesprühtem Straßendrachen nebenan? Ich saß bei einem Altglas Container und sah durch den Anzug, durch die Haut und durch das Herz des Mannes, der so schrie. Direkt in die Seele. Er war so zornig. Seine Runzeln auf der Stirn, ein Ausdruck der Angst. „Vor was hast du Angst?“ lachte ich den Mann entgegen. „Sieh sie dir an!“ er breitete die Arme aus und zeigte verurteilenden auf das Plastikflaschenmädchen. Sie stieg in ein Auto ein. „Da fährt die Straßenbahn!“ rief der Mann ihr nach und fuchtelte unkontrolliert mit seinen Armen. Goldene Ringe auf seinen Fingern funkelten im Laternenlicht auf. Ich nuckelte an meiner Flasche. Ihre Freundinnen fauchten den Mann an, dass die Straßenbahn teuer ist. Ich prustete mein Getränk aus meinem Mund und rief ihnen zu, dass Benzin gratis ist. Sie gingen verwirrt weiter und der Mann schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Ich habe eine Vision“. Flüsterte er mir zu. Ich breitete ihm gastfreundlich eine meiner Zeitungen auf dem Boden aus. Er setzte sich mit dem Arsch auf einen Klimastreik. „Das da, fing er dieses weltbewegende Gespräch an, das ist der Untergang.“ Ich nickte: „Mir ist die Welt egal, ich muss erst die meine reparieren.“ Er nickte. „Du mein Freund, bist der umweltfreundlichste Mensch in dieser Stadt. Keine Abgase, kein Konsum.“ Ein zweischneidiges Kompliment. „Dein Leben für das Leben.“ Sprach der Mann weiter und ich wusste keine Antwort darauf. „Guck mal.“ Ich guckte. Er stand auf und schrie wieder: „Seid ihr bereit, so zu leben wie er?“ Er zeigte auf mich. Er nahm die Zeitung mit dem Klimastreik. Zerriss sie in der Luft. „Wer von euch steht hinter diesen putzigen, flehenden Schildern und hält sie nicht nur hoch?“ Die Menschen schauten zwanghaft beschämt auf den Boden. Niemand. Er setzte sich wieder zu mir. „Ich habe etwas erfunden,“ weihte mich der Mann verheißungsvoll ein. Er hatte anscheinend eine App programmiert. „Du bist ein nachhaltiges Vorbild der Selbstaufgabe. Aber sie wollen eine heile Welt und ein konsumorientiertes Leben. So wie du will niemand sein, auch dann nicht, wenn die Welt untergeht.“ Mich schmerzten seine Worte nicht und das wusste er. „Man muss sie von innen heraus bekämpfen.“ Und dann stand er auf, warf mir sein Handy hin und ging wankend fort. Er kotzte in den nächsten Mistkübel.
Jahre später schlafe ich auf genau diesem besoffenem Mann ein, bemerke es aber erst am nächsten Morgen. Der Mann lächelt aus einer Zeitung und schüttelt einem anderem Mann die Hand. Unter dem Bild lese ich über eine App namens Reptine und über eine neue Wirtschaftsform. Mir kommen dunkel wieder Erinnerungen auf. Dann fällt mir ein, dass in jener Nacht jener Mann und ich noch länger gesprochen haben.
„Die Menschen brauchen einen Gegner“ sprach der Mann weiter und kam zurück. „Sie können aber nicht gegen sich selbst kämpfen, das erfordert zu viel Selbstreflektion.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber wozu kämpfen“, fragte mich der Mann, „wenn es einfacher geht?“ und ich erwiderte: „Mit diesem Motto landete ich auf der Straße.“ Wir lachten beide wie alte Freunde, die sich schon ewig kannten. „Zurück zum Thema: Diese App, Reptine, wird die Welt verändern.“ Ich deutete ihm, weiterzusprechen. „Der Algorithmus ist ein grüner Teufel. Weißt du wieso?“ Ich schüttle den Kopf. „Weil er nur jene Influencer überleben lässt, die ein grünes Leben vorleben. Vertical Gardening, Solarzellen, Ecocars, das alles brauchst du, damit du für Sponsoren auf Reptine interessant bist.“ Ich nickte, obwohl ich nicht verstand, wie das funktionieren soll. „Die Jugendlichen rennen den Influencern nach, sie sind ihre Vorbilder. Wir können mit dieser App die Wertvorstellungen der Jugend verändern!“ Er rief: „Verändert man die Werte, verändert man die Welt! Ich muss alle manipulieren!“
Stolz streiche ich über das Gesicht in der Zeitung. Halte es auf Augenhöhe und stütze mich mit einer Hand am Boden ab, als mich ein schneidender Schmerz durchfährt. Spiegelscherben! Ich ziehe fluchend meine Hand weg, welche meine zerrissene Kleidung blutrot färbt. Doch ein reflektierendes Gesicht in einer der zwei gefährlichen Scherben lässt mich innehalten. Der Mann im Spiegel und der Mann aus der Zeitung sind sich täuschend ähnlich. Nein falsch. Sie sind beinahe ident! Ich fasse mir entsetzt in das Gesicht, über den Bart und über die Nase und als ich die gepflegte, faltige Haut unter meinen blutigen Fingern spüre, verändert sich die Welt vor meinen Augen. Als wäre ich aus einem ewigen Albtraum erwacht. Die Jugendlichen mit kleinen Geräten, welche 3D-Videos von ihren Gärten abbilden und der Angeber, welcher sein CO2-freies Ecocar präsentiert, waren vorher nicht da. Der saubere Straßendrache fährt in die Haltestation ein, welche übersäht ist mit den verschiedensten, bunten Pflanzenart der Region und Vogelgezwitscher erklingt. „Guerilla Garding“ lese ich in der Zeitung. Ich drehe mich überwältigt im Kreis, habe das Gefühl zu schweben, als ich den klaren, blauen Himmel erblicke. „Entschuldigen Sie!“ spricht mich plötzlich eine Jugendliche an und reißt mich in die Realität zurück. „Haben sie hier noch eine Zeitung?“ Sie staunt. „Welches Jahr haben wir?“ frage ich schweißgetränkt zur Antwort. „Ein Jahr, wo es nichts Gedrucktes mehr gibt“ antwortet sie lachend. „Das war doch Ihre Idee, die Einführung der seminaturalen Digitalisierung.“ Ich verstehe die Welt nicht mehr, aber sie wirkt repariert.