Auch die Baumaschinen an der Hauptstraße standen im Regen. Allerdings wurde hier, an dieser Baustelle nicht etwa der Straßenbelag erneuert, nein, eine Leitung wurde gelegt.
Ein Projekt sollte hier auf die Beine gestellt werden, was den Regionen, in denen der Wind nicht täglich so schön wehte, wie hier an der Nordsee, trotzdem zu grüner Energie verhelfen sollte. Das Atomkraftwerk in der Nähe des kleinen, süddeutschen Örtchens, das mit dem grünen Nordstrom versorgt werden sollte, bekam jetzt schon seine letzten Monate gezählt.
Fünf Uhr, die Sonne ging langsam auf und warf ihre warmen Strahlen durch die noch nassen, glitzernden Blätter der paar Bäume, die hier, neben dem Gemeindehaus, ein kleines Wäldchen bildeten.
Es war gerade Sommer, um die 20 Grad – täglich. So standen auch die feuchten Blätter in saftigem Grün und spendeten ihr Schatten, der Leiche, die darunter lag.
Ein erfrischendes Lüftchen setzte ein, wehte sanft durch Noras Haare. Gestern Abend hatte hier, im Gemeindehaus, eine Projektbesprechung stattgefunden, zur Realisierung und dem Fortschritt des Projekts „grüne Energie für unseren Süden“. Nora Klaschner war die Hauptvertreterin des Projekts und bewältigte stets die Massen an dazugehöriger Organisation.
Gute Stunden später, die Sonne war jetzt vollständig zu sehen, schwang sich ein Kind, das hier in der Straße wohnte, auf sein Fahrrad, um sich auf den Weg zur Schule zu begeben. Als Sina am Gemeindehaus vorbei radelte und ihren Blick über die Wiese und das angrenzende Wäldchen schweifen ließ, bremste sie so abrupt, dass sie sich samt Fahrrad beinahe überschlug. Da lag doch etwas, unter den Bäumen, wie Grünabfall sah es keinesfalls aus.
Sina lehnte das Rad an eine alte, schon bröckelige Backsteinmauer, ging zögerlich dem Gebüsch entgegen. Tatsächlich war es etwas, was da nicht hingehörte – ein Mensch – ein toter Mensch.
Sie stand nur da, blickte den Körper an, der da vor ihr lag. Kälte sowie Angst kletterten an dem vor Schreck sprachlosen Kind immer höher.
Wieder setzte leichter Regen ein, der Wind wurde kälter.
„Auftragsausführung“ tippte Herr Altsteiner in die Betreffzeile seiner Email. Nun sollte ein Bericht folgen, einer des Mordes, der geplanten Tat, die nach der Projektbesprechung vollbracht worden war.
Immer schneller schrieb er einen Text in die Email hinein, immer schneller strömte ihm das böse Blut durch die Finger. Blut klebte auch an dem Messer, das unter seinem Schreibtisch lag.
Herr Altsteiner, einer derer, die offenbar etwas gegen den Ausbau des Projekts hatten, die Atomkraftwerke schöner fanden, zu unfähig waren, das positive Potential zu entdecken, aber wozu auch, wenn ein Atomkraftwerk die Landschaft doch so schmückte und dazu auch noch umweltfreundlich war…
Zudem war er gut mit jenem befreundet, der nicht nur seine Meinung unterstützte, sondern sogar noch der Vorgesetzte des Süddeutschen Energieverbandes war. Und der Süddeutsche Energieverband war nun mal dafür, altes zu erhalten, in seinen Augen nicht Altes, sondern gar Tradition – Tradition mit Geschichte. Einer umweltzerstörenden Geschichte.
Sina stand immer noch im nassen Rasen, den leblosen Körper anblickend. Das war doch die Nora Klaschner, die hatte Sinas Mutter doch in der Zeitung gesehen, da war die ja abgebildet gewesen.
Sina schwang sich auf ihr Rad, radelte zum Haus zurück.
Schnell rannte Sina, ihre Mutter hinter sich herziehend, zum Gemeindehaus, das jetzt gar im Schatten der Bäume versank. Nicht weniger in Panik als ihre Tochter war nun Sinas Mutter, die ebenfalls die tote Nora Klaschner erblickte. Auch an ihr stieg jetzt eine Angst hoch, eine Angst vor… - ja vor was denn eigentlich?
„Mama. Wir müssen die Polizei informieren“ bat Sina ihre Mutter, doch die verweigerte unter dem Argument, dass das nichts bringe…
Mistraurisch schaute das Kind nun an seiner Mutter hoch.
Doch es dauerte nur wenige Minuten, in denen Nora Klaschner unter den Bäumen weiter vor sich hin gammelte, bis eine ältere Frau mit einem Hund des Weges kam. Sie ließ ihren Hund von der Leine, damit er sich im kleinen Wäldchen, neben dem Gemeindehaus, erleichtern konnte – wie jeden Tag um 7:30 Uhr. Doch rannte das Tier noch schneller als sonst zwischen die Bäume, begann, an Noras Körper zu schnuppern.
Auch die alte Frau näherte sich nun, auch sie sah, was ihr Hund gefunden hatte. Die Frau zögerte keinen Moment länger, die Polizei zu informieren.
Sinas Mutter war inzwischen immer merkwürdiger geworden, ihre Tochter immer mistraurischer.
„Warum sollen wir die Polizei nicht anrufen?“ fragte Sina vorsichtig.
„Du musst zur Schule, ich fahre dich schnell hin“ erwiderte die Mutter belanglos zurück.
„Vergiftet!“. Nicht anders lautete das Urteil der Gerichtsmedizin, unter dessen Augen der leblose Körper nun lag. „Nur vergiftet. Keine äußere Gewalteinwirkung“
Sinas Mutter fuhr gestresst auf den kleinen Parkplatz der örtlichen Grundschule.
„Mama, warum rast du so? Wir sind doch noch nicht zu spät“ fragte das Kind.
Es folgte keine Antwort.
„Bis nachher, Mama“ Sina schloss die Autotür.
Gelangweilt ließ Sina sich auf einer Bank des Schulhofes nieder. Es war Montagmorgen, noch keine Lehrkraft in Sicht.
Doch was war das, was da, hinter dem Gitterzaun, unter der Hecke lag.
Es war Heinrich Hessen, auch einer, der in dem Projekt „grüne Energie für unseren Süden“ eine wesentliche Rolle spielte, auch er lag hier – leblos. Mit einem Loch im Bauch, von Blut umgeben.
Ein Glück, das so eben Frau Seberg auf den Schulhof kam. Sina rannte zu ihrer Lehrerin, die die Polizei rief.
„Mit Messerstich getötet“ lautete das Urteil der Gerichtsmedizin diesmal.
…Blut klebte auch an dem Messer, das unter Herr Altsteiners Schreibtisch lag…
Sinas Mutter ging in die Küche, öffnete einen hoch gelegenen Hängeschrank und griff den Karton mit den kleinen Flaschen. Nichts anderes war darin, als das, was Nora Klaschners Leben beendete.
Sinas Mutter schrieb eine Nachricht an ihren Freund nach Süddeutschland, der in der Verwaltung des Atomkraftwerkes arbeitete…