Ein weites Sonnenblumenfeld. Strahlend gelb neigten sich ihre Köpfe und wehten in dem lauen Wind, der ein bisschen Abkühlung an dem heißen Sommertag brachte. Dahinter ein großer Wald voller Linden, Buchen, Eichen und Ahornbäumen. Je weiter man in den Wald vordrang, desto vielfältiger wurde die Umgebung. Im Herbst waren die Wege voll mit Kastanien während sich das schützende Laub verfärbte und von den Bäumen schwebte. Damit eignete es sich perfekt fürs Versteckspielen und das Sammeln von Käfern. Rosie konnte es kaum erwarten, bis es endlich wieder soweit war. Doch auch im Sommer war der Wald der Lieblingsort von ihr und ihren Freunden. Ganz ungeduldig zappelte sie auf ihrem Stuhl herum, was ihr einen mahnenden Blick ihrer Mutter einhandelte. "Rosie, setz dich anständig hin und iss dein Mittag!", wurde sie zurechtgewiesen. Sie sah auf ihren Teller. Kartoffelbrei und Erbsen, igitt. Sie verzog ihr Gesicht und wollte schon protestieren, als ihre Mutter einen Finger hob und in der Luft hielt, wie um Rosies Gedanken zu pausieren. "Wenn du artig deinen Teller aufisst, darfst du danach mit deinen Freunden in den Wald." Sofort hellte sich ihre Stimmung auf und sie begann den Teller so schnell wie ihr möglich zu leeren. Die Tatsache, dass sie gleich im Wald sein würde, machte wett, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wann sie das letzte Mal etwas anderes als Kartoffeln und Erbsen gegessen hatte. In Windeseile trank sie ihr Glas Wasser aus und wischte sich den Mund mit ihrem Handrücken ab. Sie wollte gerade aufspringen und durch die Tür in die Freiheit, als ihre Mutter sie am Arm festhielt. "Hast du nicht etwas vergessen?", fragte sie und hielt die Flasche mit dem Sonnenspray hoch. In der anderen Hand hielt sie den überdimensionalen Sonnenhut, den heutzutage beinahe alle im Sommer trugen. "Aber Mama, ich muss los!", nörgelte Rosie, doch ihre Mutter ließ nicht mit sich reden. "Du weißt, wie wichtig das ist! Du kannst sehr krank werden, wenn deine Haut ungeschützt der Sonne ausgesetzt wird! Keine Diskussion!" Trotzig stampfte Rosie mit dem Fuß auf, nahm aber doch die Flasche, um sich einzucremen. Sie hatte bei ihrer Nachbarin gesehen, was die Sonne anrichten konnte und erschauderte bei der Erinnerung. Es dauerte eine Weile, bis sie jeden Fleck erwischt hatte, aber schließlich war sie bereit und hüpfte aufgeregt mit dem riesigen Hut auf dem Kopf in Richtung Tür. "Tschüss Mama!", rief sie und drückte die Klinke hinunter. "Tschüss, mein Liebling! Denk dran, um 19 Uhr musst du zurück sein!" "OK!", antwortete sie, schon halb aus der Tür. Schwer fiel sie hinter ihr zu. Rosie rannte voller Vorfreude zu ihrem kleinen, roten Fahrrad und schob es auf die Straße. Sie setzte sich auf ihr Rad und begann wild zu strampeln. Mit einer Hand hielt sie ihren Hut fest, damit er nicht von ihrem Kopf geweht wurde. Ihre braunen Locken fielen über ihre Augen, doch Rosie hätte den Weg auch blind gefunden. Ein ausgelassenes Lachen entschlüpfte ihr, als der Wald immer näher kam. Es wurde übertönt von einem lauten Geräusch und sie sah gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Dutzende von Flugzeugen über sie hinweg flogen. Sie sprang von ihrem Fahrrad und ließ es achtlos am Wegesrand liegen. Das letzte Stück lief sie zu Fuß in den Wald und stellte sich in den schützenden Schatten der Bäume, um die Flugzeuge zu beobachten. Jeden Sonntag flogen sie über der Kleinstadt, in der sie lebte. Rosie verstand zwar nicht, weshalb, aber da sie lustige Sachen wie Loopings und Drehungen machten, sah sie ihnen gerne zu. Sie wusste nur, dass die Flugzeuge sie beschützten. Die Welt war ein unsicherer Ort geworden, seitdem die Rohstoffe immer knapper wurden und das Trinkwasser immer wertvoller. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass andere Länder von ihnen stehlen wollten und den Menschen dabei böse Dinge antaten. Doch ihre Regierung beschützte sie und solange sie den Glauben in Gott nicht verloren, würde ihnen nichts passieren. Sie hatten das Privileg, einen der letzten, unangetasteten Wälder dieses Landes direkt vor den Stadttoren zu haben und von ihm zu profitieren. Deswegen gab man auf sie besonders Acht. Aus diesem Grund hatte Rosie auch nie Angst vor den lauten Fliegern, sondern winkte ihnen immer fröhlich zu, wenn sie sie sah. So auch jetzt, obwohl sie wusste, dass die Leute darin sie nicht sehen konnten. Voller Erwartung weiteten sich ihre blauen Augen, als die Flugzeuge bei der Stadt ankamen. Doch was sie sahen, waren keine Loopings. Sie sahen, wie eigenartige, längliche Dinger aus den Flugzeugen fielen. Sie sahen, wie sie auf die Häuser trafen und sie dem Erdboden gleichmachten. Und jetzt sahen sie auch, dass die Flugzeuge eine ganz andere Farbe hatten als sonst, und dass die Flagge auf den Flügeln andere Farben hatte als die, die überall in ihrer Stadt hing. Aus allen Richtungen begannen Sirenen zu heulen und Rauchwolken färbten den Himmel schwarz. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich das ruhige Stadtbild in eines voller Zerstörung und Leid. In der Ferne erkannte sie ihr Haus, welches eines der letzten am Stadtrand war. Sie musste zurück, zu ihrer Mutter. Dort würde sie sicher sein. So schnell sie konnte, rannte sie zu ihrem Fahrrad und hob es vom Boden auf. Doch sie war keinen Meter gefahren, als sie mit ansehen musste, wie gleich mehrere dieser länglichen Dinger auf ihr Haus fielen und beinahe nichts davon übrigließen. Das Gefühl der absoluten Furcht ließ sie erstarren und es war, als würde jemand seine Hände um ihren zarten Hals legen und zudrücken. Sie bekam keine Luft mehr und langsam bildeten sich schwarze Punkte vor ihren Augen. Japsend brachte sie ein letztes Wort hervor, bevor sie ihr Bewusstsein verlor: "Mama …"