zwanzigzwanzigprolog

Einsendung von Joshua Poschinski, 26 Jahre

Bis zu Beginn des vergangenen Jahres hatte man vor allem im westlichen Kulturkreis angenommen, dass ein Leben in der ersten Welt einen schier unaufhörlichen Fortschritt mit sich bringt. Fernab von jeglichen apokalyptischen Weissagungen war dies nicht nur ein Halt, auf den man hinarbeiten konnte und wollte. Es war ein Umstand, der immer klareren Linien folgte: Junge Menschen, die auf die Straße gehen und ihren Unmut gegenüber der unverhältnismäßigen Ausbeutung des Planeten kundtun. Die Forderung von Gleichberechtigung in allen Richtungen, ob Geschlecht, Ethnie, Sexualität, Glaube. Eine langsam ins Rollen kommende Gesinnung der Mentalität innerhalb jener Gesellschaft, deren Auswirkungen tatsächlich bemerkbar werden.

Dass solch ein Entgegensetzen der antiquierten, trägen Konfliktbewältigung zu Konflikten führt, mag unumgänglich sein. Doch die überwältigende Mehrheit scheint, wenn auch stillschweigend, damit übereinzustimmen, dass der Mensch ein facettenreiches, beispielloses Tier ist. Jeder auf eigene Art individuell und doch insofern gleich, als dass oberflächliche Unterschiede die Welt auf angenehme Weise zeichnen. Und nicht der Impuls dafür sind, diese in Leid stürzen. Ob man ein Arschloch ist, steht in keinem Zusammenhang mit Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Man entscheidet sich bewusst dafür, eins zu sein. Die aktuellen Umstände mögen jedoch, wenn man den optimistischen Mut aufbringt, daran zu glauben, diese Entwicklungen nicht bremsen – vielleicht beschleunigen sie diese sogar. Im langen Atem der Lähmung und des Ungewissen, den jede und jeder auf eigene Weise zu tragen hat, mag dieses Jahr die Steine schneller ins Rollen bringen, als man zunächst angenommen hatte. Als bitteren Beigeschmack aber auch, dass Idioten ihre kuriosen Phantasien nicht mehr still in ein Bierglas spucken müssen, sondern auch die Möglichkeit haben, sich unabhängig vom Standort zu vernetzen und zu verbreiten. Die erste Welt ist in ihrem Glauben erschüttert worden, sie wäre ein unangreifbares Schiff gen Horizont. Zurück auf dem Boden der Tatsachen mag so manchem also klar werden, dass die gemütliche Decke des Privilegs einem entwendet werden kann und man schutzlos und nackt der angsteinflößenden Zimmertemperatur aus- geliefert ist. Vielleicht ist dies der Anstoß: Die Notwendigkeit, um zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Probleme als Einheit lösen zu können. Die Konflikte innerhalb jener Spezies beiseitezulegen und zusammenzuhalten. Der Grundstein dafür ist weltweit zwar nicht jedem gleichsam zugänglich, doch hat auch das Internet diesen Zugang in fast allen Belangen erleichtert: Aufklärung. Das Gold des 21. Jahrhunderts. Und wem es schwerfallen sollte, einen Zeit Online Artikel von einem auf merkeldiktatur.hh veröffentlichten Text zu unterscheiden, mein Beileid.

So optimistisch dieser Glaube auch ist, so realistisch gilt es, diesen Umstand zu betrachten. Während es immer Menschen geben wird, die sich dem friedlichen Miteinander entgegenstellen, Hass schüren und behaupten, Parlamentsabgeordnete würden Kinderblut trinken, wird es auch immer jene geben, die sich für das Gute einsetzen. In den sozialen Berufen, im Privaten. Krankenpflegende, die Oma, die Hakenkreuze mit Herzen übermalt, der Lobbyist, der sich für Alleinerziehende einsetzt, das abgeschottet lebende Ehepaar, das Tausende Bäume auf ihrem Grundstück pflanzt. Und sei es nur jemand, der seinem Chef erklärt, das es natürlich rassistisch von ihm ist, wenn er seinem süd-koreanischen Mitarbeiter unterstellt, er wüsste von einem Geheimtrick wie man Reis richtig kocht. Hier liegt die Schwierigkeit: So einfach es ist, Menschen für ihr Verhalten zu verurteilen, so wichtig ist es, sich hin und wieder die äußeren Umstände vor Augen zu halten und das nötige Verständnis aufzubringen. Vor dreißig Jahren war die Gesellschaft eine andere. Und wenn wir alle auf unseren Verandas sitzen und im pisswarmen Dezember Eiswürfel in unsere Weinschorlen fallen lassen, werden uns unsere Enkelkinder hoffentlich auch in den Bauch piksen und fragen, wie wir so ignorant sein konnten, offensichtlichen Ungerechtigkeiten nichts entgegengesetzt zu haben.

Wir werden uns darüber klar werden müssen, dass dies eine selbstlose, kollektivbewusste Aufgabe ist. Doch wenn wir dafür einstehen und jeder einen Teil dazu beiträgt, könnte der Mensch irgendwann einen Punkt erreichen, der tatsächlich für alle zufriedenstellend ist. Der Zug ist also noch lange nicht abgefahren. Es ist alles eine Frage der Einstellung. Die äußeren Umstände mögen vieles erschweren, aber es liegt an uns, das Beste daraus zu machen.
Wir haben es in der Hand. Cheers.