Zeit, um Mensch zu sein
Einsendung von Lilli H., 25 Jahre
In keinem anderen Jahr habe ich so oft so ausgiebig und entspannt gefrühstückt. Normalerweise bin ich nach einem halbstündigen Schlummer-Terror aus dem Bett gesprungen, habe mich im wahrsten Sinne des Wortes fertig gemacht und bin los zur Arbeit gespurtet. Wenn es mal richtig gut lief, gab es ein selbst geschmiertes Brot, das ich zwischen dem Fahrkartenautomaten und der Zugtoilette verspeiste. Aber meistens lief es auf die Butterbrezel in zweifacher Verpackung hinaus.
In diesem Jahr habe ich mich an den Tisch gesetzt. Es gab immer warmen Tee und bei besonderer morgendlicher Euphorie sogar einen frisch gepressten Orangensaft. Und das ist für mich der Indikator, dass sich etwas geändert hat. Das Leben – von uns allen – wurde entschleunigt. Plötzlich kann man an einem Montagvormittag ausgiebig mit der besten Freundin telefonieren. Auf einmal findet halb Deutschland Zeit, um Bananenbrot zu backen und jeder redet davon, endlich mal wieder seinem Hobby nachgehen zu können. Mein Highlight war sogar zeitweise eine Backofenschublade, die ich bei einer groß angelegten Putzsession gefunden habe, indem ich sie freigeputzt habe.
Das Jahr 2020 hat uns mit einer derartigen Wucht auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt – und das lag bei mir nicht an der neuentdeckten Backofenschublade. Diese ist nur ein Symbolbild für den Luxus, den wir nie wahrgenommen haben. Volle Regale im Supermarkt? – selbstverständlich! Mindestens zweimal im Jahr in den Urlaub fliegen? – dank Billigflieger-Angebote fast schon Routine. Kurz mal ein Outfit für Freitagabend kaufen? – ich habe ja sonst nichts im Kleiderschrank hängen. Aber was passiert, wenn das alles wegfällt? Dieser Frage mussten wir uns alle stellen. Und jeder musste sie für sich selbst beantworten. Wir haben viel zu lang viel zu schnell gelebt. Die Leidtragende war dabei unsere Umwelt. Unsere Natur. Ohne die wir nicht einmal existieren würden. Plötzlich war ein Spaziergang im Park wie Urlaub und man musste sich die Sitzplätze auf der Parkbank wie Liegen am Strand ergattern. Jeder Atemzug an der frischen Luft tat gut, denn es war nicht die verbrauchte Luft aus den eigenen vier Wänden. Große Teile des sozialen Lebens spielten sich im Freien ab, während Konsum, in dem Maße wie wir ihn kannten, in den Hintergrund rückte. Im Vordergrund stand die Solidarität. Solidarität für den Menschen unabhängig seines Alters, seiner Herkunft oder seines sozialen Standes. Eine Eigenschaft, die in unserem grenzenlosen Konsum in Vergessenheit geraten ist. Denn die Ungerechtigkeit ist ja nicht vor der eigenen Haustüre geschehen.
Dieses Jahr sind wir wieder zu Menschen geworden. Menschen, die durch ihre Menschlichkeit glänzen und nicht durch ihr jährliches Netto-Einkommen. Menschen, die ihre Umwelt zu schätzen lernen, denn es kann viel zu schnell gehen, dass wir kein Teil mehr von ihr sind. Menschen, die keine großen Ereignisse für ihr Glück brauchen – manchmal reicht eine versteckte Schublade aus. Menschen, die realisieren, dass wir nicht ohne unsere Umwelt können, aber die Umwelt ganz gut ohne uns. Aber der Mensch ist auch ein Gewohnheitstier, das schnell in alte Muster verfällt. Um Jahrzehnte alte Denkmuster zu durchbrechen und verkrustete Prozesse aufzulösen, bedarf es an Zeit. Zeit, die wir noch haben. Solange unser Leben nicht davongaloppiert, sondern trabt. Sobald es wieder an Fahrt gewinnt, schwingt die Tretmühle wieder mit voller Kraft. Und wer sagt, dass sie dann nicht umso stärker schwingt?
Für das kommende Jahr heißt es deswegen: Die Entschleunigung zur Gewohnheit machen. Dann wird der Coffee to go endlich überfällig, denn jeder nimmt sich die Zeit für seinen Kaffee. Dann wird Fast Fashion zur Vergangenheit angehören, denn der eigene Kleiderschrank hat doch viel mehr zu bieten als gedacht. Dann wird eine Flugreise von München nach Berlin überflüssig, denn die vermeintlich eingesparte Zeit hat man doch nie für sich selbst genutzt.
Und dann gelingt es uns vielleicht dauerhaft menschlich zu sein.
Autorin / Autor: Lilli H.