Deadline
Einsendung von Emelie A., 15 Jahre
Wohlwollend strich sie sich über ihre Kugel, die sich trotz ihrer kurzen Existenz schon fest in ihr Leben integriert hatte. Tag und Nacht kreisten ihre Gedanken um ihren kleinen “Murmel” wie sie ihn nannte. Oder sie? Diese gedankliche Frage ließ sie erneut beginnen zu weinen. Noch konnte sie es auf die hormonelle Umstellung schieben, dachte sie verbittert.
Wie jeden Morgen in den vergangenen Wochen stand sie in aller Herrgottsfrühe am Küchenfenster und beäugte kritisch den gegenüberliegenden verwahrlosten Spielplatz, der problemlos als Symbolbild für ihr emotionales Dilemma herhalten konnte. Und wie jeden Morgen folgte auf ihre Hoffnungslosigkeit und ihre Trauer die Wut.
Wut auf die Gesetzgebung, die trotz zahlreicher Demos und Verdrängungsversuche ihrerseits in Kraft getreten war, die laut Regierung für “eine möglichst unkomplizierte Reduzierung der CO2-Emissionen" sorgen sollte und die ein neues Leben als größten Problemherd in diesem Bereich auserkoren hatte. Zumindest wenn es die falschen Eltern hatte. Eine Mutter zum Beispiel, die sich erdreistet durch ihr zweites Kind die Erfüllung der Klimaziele für den Staat noch zu erschweren. Dass diese sich wegen eines Autounfalls schon längst nicht mehr Mutter nennen konnte, war dabei völlig egal.
Aber hatte sie eigentlich eine Wahl? Offiziell hatte sie die natürlich. Dazwischen Murmel ohne finanzielle Unterstützung großzuziehen, was für sie schlichtweg unmöglich war oder... ihr eigenes Kind zu töten. Als ob einmal nicht genügt hätte. Immerhin hatte sie hier zahlreiche Varianten “es” zu tun. Auch wenn sie mit “Abgabedatum”, “Abschied” oder wortwörtlich “Deadline” eine Menge Umschreibungen für “es” gesammelt hatte, versuchte sie den Begriff “Abtreibung” aus ihrem Kopf zu streichen.
Selbstmitleid durchflutete sie, als sie wie jeden Morgen zu dem Schluss kam, dass sie das Alles gar nicht verdient hatte. Dass diese beschissene Regelung nur wegen dieser Schweine existierte, die meinten, dass das Alles nur Panikmache und gar nicht wissenschaftlich belegt sei. Bis die Realität sie mit so gewaltiger Wucht getroffen hatte, dass sie mit einem Mal allesamt verstummt waren. Sie hatte immer auf ihren persönlichen Beitrag geachtet. Immer. Nur zweimal pro Jahr fliegen, das Auto ab und an stehen lassen, jedes Jahr zu Weihnachten eine Spende an Greenpeace. Nein, gerecht war das nicht.