Es war still hier draußen, so unheimlich still. Fine trug das Gebilde fest an die Brust gepresst, wie eine Mutter ihr Neugeborenes. Schon merkwürdig, dass ausgerechnet sie etwas so Wichtiges in den Händen trug.
Draußen war es ihr sofort aufgefallen. Dieses kleine Etwas, das wie eine Stange in einer Ecke stand. Aber eine Stange war gerade und glatt und das Gebilde...es war ein vielleicht ein bisschen gekrümmt, nicht ganz perfekt. Und dann war da die Farbe. Weder Grau noch Weiß oder Schwarz, sondern Grün. Nicht das quietschige Grün, das ihr Schulbildschirm anzeigte, wenn Fine eine Frage richtig beantwortet hatte, sondern ein dunklerer Farbton, der ihr merkwürdig vertraut vorkam, obwohl sie sich vollkommen sicher war, ihn nie zuvor gesehen zu haben.
Pflanze. Den Namen hatte sie nach langem Nachhaken aus Grace herausbekommen. Als Fine von draußen wieder reingekommen hatte, hatte sie erst gedacht, ihre Tante wäre sauer auf sie gewesen, weil sie sich hinausgeschlichen hatte. Doch dann hatte sie gemerkt, dass der undeutbare Blick auf dem runzligen Gesicht der Frau nicht ihr, sondern dem Gebilde in ihrer Hand galt. „Ich muss träumen“, hatte sie gesagt. „Das ist doch nicht etwa eine…“ Immer wieder hatte sie den Kopf geschüttelt und das Gebilde angestarrt und Fine hatte sich allmählich Sorgen gemacht, ob sie nicht doch einen Schlaganfall oder Ähnliches erlitten hatte. Wenig später schien sie aber gut gelaunt zu sein und Fine glaubte in den sonst so müden Augen etwas funkeln zu sehen.
Den gleichen Blick hatte Grace immer noch gehabt, als Fine sich schließlich auf den Weg gemacht hatte. Diese hatte nicht ganz verstanden, warum sie jetzt plötzlich doch raus sollte. Mit ihren acht Jahren wusste sie nicht viel über die Welt, aber dass es draußen jede Sekunde zu lebensgefährlichen Wetterumschwüngen kommen konnte, wusste sie. Ebenso, wie das aus diesem Grund kaum noch ein Mensch raus ging. Auch sie nicht. Nun ja, abgesehen davon, wenn sie sich heimlich davonschlich. Denn was sollte ihr in der weiten Leere, wo es nichts als Grau gab schon passieren? Grace schien das anders zu sehen, ebenso wie die anderen Erwachsenen vom Forschungsamt, mit denen sie kurz nachdem Fine mit der Pflanze aufgetaucht war telefoniert hatte. Wenn es keine unterirdische Route gäbe, sei es viel zu gefährlich, jemanden den weiten Weg zu schicken, die Pflanze abzuholen, hatte man ihr gesagt. Und überhaupt sei das doch alles ein schlechter Scherz. Es gäbe keine einzige Pflanze mehr auf der Welt. Man habe jahrzehntelang verschiedenste Proteine zusammengesetzt und Stoffe extrahiert, ohne jemals auch nur einen lebensfähigen Grashalm herstellen zu können. Dass da einfach plötzlich eine Pflanze vor einer beliebigen Türschwelle auftauchen würde, sei ja wohl kaum möglich.
Geärgert hatte Grace sich, da war Fine sicher, aber der guten Laune ihrer Tante hatte es keinen Abbruch getan. Dennoch hatten sie vor einem Problem gestanden, hatten sie in ihrer kleinen Wohnung doch weder das nötige Fachwissen noch die passende Ausstattung, um sich um die Pflanze zu kümmern. Und da Grace in ihren späten Tagen alles andere als fit war, hatte sie Fine schweren Herzens mit ein paar Rationen in der Tasche allein auf den Weg geschickt.
Früher waren die Rationen nicht in den Chemielaboren unter der Oberfläche hergestellt worden, sondern hatten auch aus solchen Pflanzen bestanden. Und aus anderen Lebewesen, die keine Pflanzen waren, sondern mehr wie Menschen und die man trotzdem gegessen hatte. Fine fragte sich, wie solche Lebewesen wohl ausgesehen haben mochten, aber sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es war schon schwer genug, zu glauben, dass dieses grüne Ding leben sollte.
Und doch war seit sie sie das letzte Mal bewusst angesehen hatte etwas Merkwürdigen mit der Pflanze geschehen. Sie könnte schwören, dass sich ganz oben eine Art Knubbel gebildet hatte. Aber vielleicht war er ihr davor auch einfach nicht aufgefallen. Oder sie hatte Halluzinationen. Das war noch am wahrscheinlichsten. Fine wusste, dass Geschichten immer gruseliger wurden, je mehr Leute sie weitererzählten und doch hatten die Bilder sich in ihren Kopf gebrannt. Bilder von Menschen, die ohne Maske zu viele giftige Gase eingeatmet und jegliche Sinne verloren hatten. Oder von grellen, flackernden Lichtern - Boten der überall gefürchteten Naturkatastrophen.
Unwillkürlich zupfte sie ihre eigene Maske zurecht. Langsam wurde das Laufen bei der viel zu langen Strecke schwer und sie sehnte sich nach dem Gebäude, dass ihre Tante ihr beschrieben hatte. Groß, gläsern und hell beleuchtet. Es war gut ausgestattet, denn es war die eine Sache, in die alle investierten. Das Forschungszentrum, das irgendwie dafür sorgen sollte, dass es wieder werden würde wie früher. Als sie kleiner gewesen war, hatte Fine Grace einmal gefragt, warum es denn nicht mehr so war – wie früher. Und Grace hatte gesagt, dass die Menschen selbst alles zerstört hatten. Fine verstand das nicht. Warum hatten sie es denn überhaupt erst kaputt gemacht, wenn sie danach alles daransetzten, es wieder zu reparieren? Aber vielleicht war sie auch einfach noch zu klein dafür.
Die Luft wurde immer dicker und weigerte sich geradezu in ihre Nase zu weichen. Fine keuchte. Aber sie kämpfte sich weiter, die Pflanze fest an die Brust gepresst. War diese eigentlich schon immer so schwer gewesen? Wobei sie ja immer noch ziemlich leicht war, für die Bedeutung, die sie hatte. Haben könnte, falls sie es an ihr Ziel schaffte. Wenn Fine schon zu klein war, um die Beweggründe der Menschen zu verstehen, wollte sie ganz sicher nicht auch noch zu klein sein, um diesen einen Weg zurückzulegen. Sie biss die Zähne zusammen. Bestimmt war es nicht mehr weit. Und doch musste sie sich eingestehen, dass sie an ihre Grenzen kam. Die Augenlieder wurden ihr schwer und waren mehrmals kurz davor zuzufallen.
Und da fiel ihr etwas Ungewöhnliches ins Auge, schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Es war ein helles, gleißendes Licht in der Ferne. Es flackerte.