Von Bielefeld nach Castres. Wohin bitte? So heißt das kleine Städtchen in Frankreich, wo ich meinen Schüleraustausch machen sollte. Mittendrin in der Covid19-Pandemie.
Eigentlich war ich immer der Meinung, dass Umweltschutz ein wichtiges Thema ist und man auf Dinge wie weniger Verbrauchen, Heizen, Autofahren achten soll. Harte Maßnahmen wie das Verzichten auf Plastik und Duschen unter kaltem Wasser halte ich nach wie vor für unnötig. Warum soll ich mich so sehr ins Zeug legen, wenn Millionen von anderen Menschen sich noch nicht mal die Mühe fürs elementare Wegwerfen von Kaugummis machen? Darin sehe ich eigentlich das ganze Umweltproblem. Würde jeder einen kleinen Beitrag leisten, wären wir aus der Katastrophe heraus.
Meine Reise begann schon in unserem Haus in Bielefeld. Die Diskussion darüber, ob ich mit dem Zug zum Flughafen nach Amsterdam fahren oder mit unserem Geländewagen dahin kutschiert werden soll, zog sich über mehrere Tage lang. Meine Eltern fanden meinen Einwand über die umweltfreundlichere Anreise mit dem Zug „schön und gut“, aber für eine Alleinreisende 14-jährige dennoch zu verrückt. Also pusteten wir mit dem Auto zum Flughafen Schiphol ca. 65 kg CO2 fleißig in die Luft. Mit dem Zug wären es 21,4 kg. An dieser Stelle ist für mich zum wiederholten Mal eins klar geworden: Als Minderjährige kann man gegen den Willen der Eltern nichts tun, selbst dann, wenn dieser Wille zur Zerstörung unseres Planeten beiträgt. Nun gut, so ganz gegen den Strich ging mir das dann auch nicht. Welcher Teenager bevorzugt schon drei Mal stressiges Umsteigen und pausenloses Maskentragen vor einer komfortablen Autofahrt? Unser Problem ist, dass wir oft auf den gewohnten Luxus nicht verzichten können. Und rechtfertigen es noch mit fragwürdigen Ausreden wie der Unmündigkeit der Minderjährigen und überall lauernden Gefahren.
Ach ja, die Pandemie ist doch unsere Rettung, SIE verhilft uns zu einer CO2 freieren Welt.
Angekommen in Schiphol fühlen wir uns wie in einem Geisterflughafen. Ich wage es zu behaupten, dass es mehr Arbeitende als Reisende gab. Trotz der Menschenleere sind alle Lichter an, alle Geschäfte offen und alle Maschinen am Laufen. Und One-Way-Gegenstände überall: aus Mülleimern ragen Einwegmasken heraus, Mitarbeiter tragen Einweghandschuhe, auf Bistrotischen liegen Einwegpappbecher und Einwegplastiklöffel. Traurige Anblicke, die meine freudige Aufregung überschattet haben. Kurz die Maske runterziehen für ein Abschiedsküsschen und dann flott zum Boarding. Von erwarteten Menschenmassen bei der Passkontrolle nichts zu sehen - ich bin die Einzige. Entspannt begebe ich mich ins Flugzeug. Wo normalerweise über fünfzig Passagiere eng aneinander sitzen, sehe ich um die zehn weit auseinander. Ich bin die letzte, die das Flugzeug besteigt und genieße einen Dreier-Platz ausnahmsweise ganz für mich. Die Maske bleibt trotz alldem auf. Der Motor startet wie gewöhnlich, dieselbe Menge an Kerosin wird verbraucht wie damals, vor einem Jahr, im überfüllten Flieger nach Mallorca. All das geht mir beim Abflug in Sekundenschnelle durch den Kopf, leichtes Kribbeln im Bauch, „bye-bye“ altes Leben, „hallo“ Ungewissheit. Über den Wolken schlürfe ich Wasser aus der One-Way-Flasche und stelle mir die Frage: Was bleibt uns denn übrig? Die Fluggesellschaft muss nach monatelangem Stillstand irgendwoher ihre Einnahmen bekommen. Der Flughafen muss wieder öffnen, denn die Kontrollen müssen durchgeführt werden, selbst wenn eine einzige Person fliegen wollen würde. Passagiere möchten nach der langen Pause ihre Urlaubsreisen wieder machen oder vom Homeoffice zum Jetset-Leben zurückkehren. Jeder hat seinen Grund. Und die Umwelt bleibt auf der Strecke.
Ich lande um 23:00 in Toulouse. Dort werde ich von einem Chauffeur abgeholt. Auf dem Weg zum Wagen fällt mir auf, dass es äußerst viele Taxis gibt. Busse hingegen sehe ich nur zwei. Ich steige ein in einen 8-sitzer Bulli und frage, ob wir noch auf jemanden warten würden. Als Antwort bekomme ich ein „non“. Um das unter die Lupe zu nehmen: Für die Hin- und Rückfahrt werden 34kg CO2 in die Luft geblasen. Und wieder das Gesellschaftsproblem - Wer würde bitte schon eine Jugendliche in einer fremden Stadt in einem fremden Land gegen Mitternacht allein in einen Bus steigen lassen? Wobei ich denke, dass ich die gleiche Sicherheit hätte.
Der erste Schultag in Frankreich:
Die Sonne lächelt mich schon am Morgen freundlich an. Da will ich ihr doch Gesellschaft leisten und nehme das Fahrrad. Dabei muss ich die ganze Zeit auf Fußgängerwegen oder der Straße fahren. Später erfahre ich, dass es sich um einen Teufelskreis handelt: Die Stadt sieht es nicht ein, sich für Fahrradfahrer einzusetzen, weil es kaum welche gibt. Die Menschen fahren nicht mit dem Fahrrad, weil keine Fahrradwege vorhanden sind. Vor der Schule fange ich mir viele irritierte Blicke und heimliches Tuscheln ein, als ich mit dem Fahrrad und Helm durch das Tor fahre. Bei den Fahrradständern sehe ich zwei weitere Fahrräder. An meiner Schule in Deutschland gibt es ca. 50 Fahrradständer, von denen die Mehrheit im Spätsommer doppelt benutzt wird.
In Deutschland habe ich nur Stoffmasken getragen. In meiner Schule habe ich es sogar als „stylischer“ empfunden, eine bunte Stoffmaske zu tragen, als eine schlichte blaue Einwegmaske, mit der bei mir auch etwas „Krankenhausfeeling“ eintritt. Zusätzlich sind Einwegmasken weniger umweltfreundlich.
Heute trage ich, wie immer, eine Stoffmaske. Während des gesamten Tages ist mir niemand anderes mit einer Stoffmaske über den Weg gelaufen. Das war das erste und letzte Mal, dass ich sie anhatte. Es reichte schon, dass ich eine Austauschschülerin war, da musste ich nicht noch zusätzlich Blicke auf mich lenken.
Den Klimawandel können wir nicht als Individuen stoppen, sondern als Gemeinschaft. Deshalb sollten wir Menschen um uns herum dazu bringen, sich auch für unsere Umwelt einzusetzen. Jede Kleinigkeit macht was aus.