Wenn über sexualisierte Gewalt gesprochen wird, dann häufig im Zusammenhang mit Erwachsenen, die sich an Kindern vergehen. Das Thema sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen wird hingegen weniger in den Fokus genommen. Dabei sind für Jugendliche andere Jugendliche das Hauptrisiko, sexualisierte Gewalt zu erfahren.
Das ist eines der zentralen Ergebnisse der dritten SPEAK!-Studie über „Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher“, die von Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Maschke von der Philipps-Universität Marburg und Bildungsforscher Prof. Dr. Ludwig Stecher von der Justus-Liebig-Universität Gießen nun gemeinsam vorgestellt wurden.
Mit sexualisierter Gewalt sind sowohl sexuelle Beschimpfungen, Drohungen oder Gerüchte gemeint als auch körperliche Formen wie unerwünschte Berührungen bis hin zu Übergriffen und Vergewaltigungen.
Im Vergleich zu den vorhergehenden SPEAK!-Studien, die an Regelschulen und an Förderschulen 14- bis 16-Jährige befragt haben, standen in der aktuellen Befragung etwas ältere Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren, die berufliche Schulen besuchen, im Fokus.
„Die Ergebnisse zeigen in eindrücklicher Weise, dass sexualisierte Gewalt – in all ihren Formen, von der sexualisierten Beschimpfung bis hin zu körperlichen Formen sexualisierter Gewalt – zur alltäglichen Erfahrungswelt der Mehrheit der Jugendlichen gehört“, so die Studienautor_innen. Es sei dabei nicht so entscheidend, welche Schulform besucht werde, sondern vielmehr das Alter und das Geschlecht. Je älter die Jugendlichen, desto ausgeprägter die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Und: weibliche Jugendliche sind besonders häufig betroffen.
„Das Besondere an der SPEAK!-Studie ist, dass sie nicht nur die Perspektive der unmittelbar Betroffenen einbezieht, sondern auch die von Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt beobachtet, davon gehört oder auch selbst ausgeübt haben“, erläuterte Prof. Maschke. Der Blick auf diese vier Perspektiven erlaube auch eine Darstellung der Zusammenhänge von sexualisierter Gewalt und der Lebenswelt der Jugendlichen, zu der beispielsweise Schulmotivation, Mobbingerfahrungen oder auch Pornografiekonsum gehörten.
*Gerüchte, pornografische Bilder, verletzende Witze*
Insgesamt 1.118 Schüler_innen der Eingangsjahrgänge an (fast) allen Formen beruflicher Schulen in Hessen wurden dafür mittels eines standardisierten Fragebogens in der ersten Jahreshälfte 2020 anonym befragt. In den Fragebögen wurden die Erfahrungen mit Formen nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt abgefragt. Das beginnt mit der Aussage „Jemand hat über mich Gerüchte sexuellen Inhalts verbreitet“, geht über die Konfrontation mit sexuellen Handlungen, wie beispielsweise gezwungen zu werden, pornografische Bilder oder Filme anzusehen, bis dahin, exhibitionistischen Handlungen ausgesetzt zu sein, oder zu erleben, dass intime Fotos oder Filme im Internet verbreitet werden.
„Zwei Drittel aller 16- bis 19-Jährigen erleben nicht-körperliche Formen sexualisierter Gewalt; bei den 14- bis 16-Jährigen in der Vorgängerstudie war es knapp die Hälfte – eine deutliche Steigerung also. Besonders häufig werden verletzende sexuelle Witze gemacht", erläuterte Prof. Stecher. „Verbreitet ist aus unserer Sicht eine sexualisierte und diskriminierende ‚Beschimpfungs-Kultur‘ unter den Jugendlichen. Weibliche Jugendliche sind darüber hinaus im Besonderen von Exhibitionismus und von sexuellen Belästigungen im Internet betroffen.“
*56% der jungen Frauen berichten, gegen ihren Willen angetatscht worden zu sein*
„41 Prozent der älteren Jugendlichen in der aktuellen Studie berichten über erlebte körperliche sexualisierte Gewalt, in der Vorgängerstudie betraf dies knapp ein Viertel; auch hier also eine deutliche Steigerung. Über die Hälfte (56 Prozent) der weiblichen Jugendlichen berichtet davon, gegen den Willen angetatscht worden zu sein (bei den männlichen Jugendlichen sind dies 11 Prozent), eine Erfahrung, die also mehr als jede zweite weibliche Jugendliche in diesem Alter bereits mindestens einmal gemacht hat“, so Stecher über die Ergebnisse zu den Formen körperlicher sexualisierter Gewalt.
*Weibliche Jugendliche sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt*
Jede vierte weibliche Jugendliche (25 Prozent) berichtet zudem davon, dass jemand versucht hat, einen Geschlechtsverkehr zu erzwingen (im Vergleich: 4 Prozent der männlichen Jugendlichen) – und jede 12. weibliche Jugendliche musste einen erzwungenen vollzogenen Geschlechtsverkehr erleben (im Vergleich: 1 Prozent der männlichen Jugendlichen). Bei diesen Ergebnissen ist die Diskrepanz zwischen der Zahl der weiblichen Jugendlichen, die solche Erfahrungen gemacht haben, und der Zahl der männlichen noch einmal deutlich größer als bei den Erfahrungen nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt. „Weibliche Jugendliche sind im Vergleich zu ihren männlichen Gleichaltrigen einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, insbesondere schwere Formen körperlicher sexualisierter Gewalt zu erleben“, hebt Stecher hervor. Die Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt sind in der Regel keine einmaligen; die allermeisten Jugendlichen erleben sexualisierte Gewalt wiederholt und mehr als eine Form.
*Hoher Pornokonsum verändert die Wahrnehmung*
„Sexualisierte Gewalt zu erleben ist nicht folgenlos für die Betroffenen, sondern wirkt in viele Lebensbereiche der Jugendlichen hinein. Betroffene gehen weniger gerne zur Schule, fühlen sich in ihrer Familie weniger wohl, haben ein negativeres Bild von sich selbst und berichten häufiger auch von Mobbingerfahrungen in der Schule als andere Jugendliche“, erläutert Prof. Maschke die Folgen für betroffene Jugendliche. „Ein aus unserer Sicht darüber hinaus ernst zu nehmender Befund ist der hohe Pornografiekonsum männlicher Jugendlicher. Zwei Drittel (65 %) geben an, „öfter“ Pornos anzuschauen. SPEAK! zeigt, dass sich gerade bei den Dauer-Nutzern die Wahrnehmung ändert. Etwa jeder vierte Dauer-Nutzer beispielsweise findet nur noch die Körper schön, die er in Pornos sieht, oder sagt, dass er immer mehr Pornos braucht“.
*Mit Prävention sexualisierter Gewalt im Jugendalter entgegen wirken*
Maschke und Stecher empfehlen darum, zusätzlich zum sexuellen Missbrauch durch erwachsene Täter, den Fokus auch verstärkt auf sexualisierte Gewalt zwischen in etwa Gleichaltrigen zu richten. Gerade das Phänomen der sexualisierten Gewalt zwischen gleichaltrigen Jugendlichen sei lange Zeit zu wenig erforscht und in Prävention überführt worden. Ziel müsse es deshalb sein, durch geeignete Präventionsinstrumente der in der Alltagswelt weit verbreiteten erlebten sexualisierten Gewalt im Jugendalter entgegen zu wirken, angefangen mit der sexualisierten und diskriminierenden „Beschimpfungs-Kultur“, Übergriffen körperlicher Art oder im Internet. Dazu beitragen könne etwa der erfolgreiche Umgang mit Medien, also die Stärkung der Medienkompetenz, um deren Angebote besser bewerten und reflektieren zu können. Auch die Schule stehe hier vor besonderen Herausforderungen.
Die Ergebnisse der Studie fließen unter anderem in Präventionsprogramme ein und unterstreichen die Notwendigkeit, Schutzkonzepte fortzuführen und weiterzuentwickeln.