Halb so wild?

Psychologie: Nahestehenden Menschen verzeihen wir moralische Vergehen eher als Fremden.

Wenn jemand sich unethisch verhält, dann urteilen wir großzügiger, wenn uns die Person nahesteht. Klaut also unser Schatz Geld, das eigentlich für ein gemeinnütziges Projekt gedacht war, dann empfinden wir weniger Wut und Verachtung, als wenn ein Fremder die gleiche Tat begangen hätte. Das haben Forscher_innen um Rachel Forbes von Universität Toronto herausgefunden. Sie hat gemeinsam mit ihrem Team erforscht, wie wir reagieren, wenn sich Familienmitglieder, Freunde oder Liebespartner etwas zu Schulden kommen lassen. Denn die Forschung weiß bereits viel darüber, wie wir auf das unethische Verhalten von Fremden reagieren, nicht aber auf das uns nahestehender Personen.

Für ihre Untersuchungen hatten die Wissenschaftlerin und ihr Team verschiedene Experimenten mit über 1.100 Freiwilligen durchgeführt, in denen es immer darum ging, das unethische Verhalten von Menschen aus dem engsten Kreis oder von Fremden zu bewerten. Die Testpersonen sollten sich etwa mögliche Taten vorstellen oder sich an tatsächliches unethisches Verhalten erinnern. Einige sollten zudem ein Tagebuch führen, in dem sie unethische Taten von Freund_innen und Fremden festhielten. Auch über mögliche Strafen sollte Buch geführt werden sowie über die eigenen Gefühle, die bei all dem entstehen.
In allen Experimenten vermerkten die Wissenschaftler_innen eine moralische Großzügigkeit gegenüber nahestehenden Menschen, während über Fremde und ihre Vergehen deutlich strenger geurteilt wurde. Einzig in einem Experiment waren die Testpersonen auch ihrem engsten Umkreis gegenüber ungnädig, wenn sie nämlich erst vor Ort von deren (angeblichen, weil für die Studie nur vorgetäuschten) Vergehen erfahren hatten. 
Während die Testpersonen versuchten, großzügig über die moralischen Verfehlungen ihrer Liebsten hinwegzusehen, litt offenbar ihr eigenes Selbstwertgefühl. Sie empfanden Scham, Schuldgefühle und Verlegenheit und schätzten in der Folge auch ihre eigene Moral niedriger ein.

Die Ergebnisse seien wichtig, weil unethisches Verhalten im Alltag oft mit sozialen Bindungen verknüpft sei, argumentieren die Forscher_innen. Auch wenn sie sich hier auf enge Bindungen konzentriert hätten, könnten solche Prozesse auch für andere Beziehungen gelten, etwa die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Wenn Menschen moralische Verfehlungen von auf diese Weise nahestehenden Personen übersehen oder nicht anklagen, sei die Aufrechterhaltung moralischer Normen in Gefahr. Die hier gewonnen Erkenntnisse sollten darum stärker in Modelle zu moralischer Bewertung miteinfließen.
In der Studie, die im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlicht wurde, wurden nur recht harmlose Fehltritte untersucht. Bei schweren Vergehen wie etwa sexuellem Missbrauch könnten andere Mechanismen zu Tage treten, räumen die Wissenschaftler_innen ein.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung