Wie man am besten mit unvermeidbaren Bedrohungen umgeht
José Antonio Pérez Escobar untersuchte, wer am besten mit der Pandemie zurechtkommt. Besonders erfolgreich sind Menschen, die gut mit negativen Emotionen umgehen können. Diese Fähigkeit kann erlernt werden, sagt er.
Gastartikel von Dr. José Antonio Pérez Escobar / Zukunftsblog der ETH Zürich
Die Covid-19-Pandemie brachte in den vergangenen bald zwei Jahren den Grossteil der Weltbevölkerung in eine noch nie dagewesene Situation. Die Bewegungsfreiheit der meisten Menschen war lange Zeit stark eingeschränkt, einige Menschen waren sozial isoliert und viele lebten mehr als sonst in Angst um ihre Gesundheit, um das Leben ihrer Angehörigen oder vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie. All dies wirkte sich auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung aus. Da die Einschränkungen, das Leid und die Ängste auf die Pandemie zurückzuführen waren und sind und sich nicht per se vermeiden lassen, ist es wichtig, dass Menschen mit ihnen umgehen können. Wir alle müssen uns mit unseren eigenen Bedrohungen, unserer Sichtweise darauf und den damit verbundenen negativen Emotionen auseinandersetzen. Es ist wichtig, diese Emotionen in unser Leben zu integrieren. Der zwanghafte Versuch, negative Emotionen zu vermeiden, ist keine hilfreiche Strategie.1
Wir haben eine Studie mit über 12’000 Freiwilligen aus 30 Ländern durchgeführt, um herauszufinden, wie sie mit der Pandemie und ihren Einschränkungen im letzten Jahr zurechtkamen.2 Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mit einem hohen Mass an Lebenssinn, die Wertvorstellungen und langfristige Ziele haben und diese engagiert verfolgen, negative Affekte besser verarbeiten können. Sie litten während der Pandemie weniger unter Stress, Depressionen und Angstzuständen.
Es waren dies Personen, die Aussagen zustimmten wie «Ich gehe gestärkt aus dieser Situation hervor», «Ich tue jeden Tag etwas Produktives», «Ich nutze diese Situation, um meinen Lieben näher zu kommen» und «Ich bin dankbar für mein Leben, wie es ist». Diesen Personen ist ein höheres Mass an «innerer Harmonie» eigen. Es handelt sich dabei um einen Geisteszustand, in dem es gelingt, sowohl positive als auch negative Lebensaspekte zu akzeptieren und in das eigene Leben zu integrieren. Innere Harmonie wird oft mit Gelassenheit und Zufriedenheit in Verbindung gebracht und ist eine wichtige Facette unseres Wohlbefindens.3
Die Psychologie hat in den letzten Jahrzehnten die Integration negativer Emotionen in unser Leben aus meiner Sicht vernachlässigt. Die Mainstream-Psychologie konzentrierte sich auf persönliche Defizite und die Psychopathologie, und die positive Psychologie der ersten Generation (das, was die meisten Menschen unter positiver Psychologie verstehen) auf positive Emotionen. Beide haben es versäumt, negative Emotionen in unser Leben zu integrieren. Das wäre jedoch nötig, um psychologische Widerstandsfähigkeit zu entwickeln, an Herausforderungen wachsen zu können und einen Zustand innerer Harmonie zu erreichen. Denn dazu müssen wir sowohl negative als auch positiven Aspekte des Lebens annehmen, anstatt die ersteren zu verdrängen. Dies ist vor allem (aber nicht nur) im Kontext einer Pandemie wichtig, wo negative Emotionen alltäglich und schwer zu vermeiden sind.
Umdeutung schwieriger Situationen
Im Mittelpunkt steht die Technik des Umdeutens, auf Englisch als Reframing bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein altes Hilfsmittel aus dem Werkzeugkasten der Philosophen. Es besteht im Wesentlichen darin, unsere Perspektive auf ein Problem zu ändern, um sinnvolle Lösungsansätze zu finden. Der Grund dafür ist, dass die Art und Weise, wie ein Problem formuliert und damit definiert wird, manchmal die Art und Weise, wie es angegangen werden kann, einschränkt.
Ein Beispiel dafür ist die Behandlung der Tabakabhängigkeit. Sie kann als biologische Krankheit betrachtet werden, die medikamentös behandelt werden muss, oder als psychologisches Problem, das psychologisch behandelt werden muss. Bei der Raucherentwöhnung ist die Psychotherapie wirksamer als die pharmakologische Therapie, wie die Forschung gezeigt hat. Daher ist es zumindest heute produktiver, die Tabakabhängigkeit als ein psychologisches Problem zu betrachten.4
Darüber hinaus wird das Umdeuten in der Psychologie im Zusammenhang mit Stress diskutiert. Ein schwieriges Ereignis kann zum Beispiel entweder als Bedrohung oder als Herausforderung wahrgenommen werden. Das Reframing schwieriger Ereignisse und der damit verbundenen negativen Emotionen ist eine Alternative zum Verdrängen. Insbesondere wenn sich schwierige Ereignisse nicht vermeiden lassen, wie es bei der Covid-19-Pandemie der Fall war und immer noch ist, ist es von entscheidender Bedeutung, gesunde Strategien zur Stressbewältigung zu entwickeln.
Besonders Gefährdete sollten Reframing lernen
Schwierige Ereignisse als Chance anzuschauen für persönliches Wachstum und die Entwicklung von innerer Harmonie und Widerstandsfähigkeit sind keine angeborenen Fähigkeiten. Jeder kann sie erlernen, wenn er oder sie entsprechend geschult und engagiert ist, und professionelle Hilfe kann dabei helfen. Eine sinnorientierte Therapie beispielsweise fördert eine Verlagerung des Schwerpunkts von oberflächlichen Beziehungen und einem hedonistischen Lebensstil hin zu tieferen Beziehungen, persönlichen Zielen und Werten und persönlicher Weiterentwicklung.5 Dadurch wird man widerstandsfähiger gegenüber Widrigkeiten und kann Schwierigkeiten als Herausforderungen (und sogar als Chancen für persönliches Wachstum) statt als Bedrohungen betrachten.
Dazu gehört zum Beispiel, dass man Social Distancing und wirtschaftliche Bedrohungen als Herausforderungen begreift, die die persönlichen Stärken und die Widerstandsfähigkeit verbessern, die Konzentration auf die eigenen Ziele fördern, emotionale Bindungen stärken und die Wertschätzung von Beziehungen und des Lebens erhöhen können.
Eine solche Denkweise und die Fähigkeit zum Reframing sind für gefährdete Bevölkerungsgruppen besonders wichtig. Unsere Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Frauen, junge Menschen, Studierende, Arbeitnehmende mit geringem Einkommen und vor allem Menschen mit psychischen oder körperlichen Vorerkrankungen die Gruppen sind, die während der Pandemie am stärksten unter Stress, Angst und Depression litten. Diese Gruppen profitierten jedoch auch am meisten von einem gesunden Bewältigungsstil, der sich auf den Sinn des Lebens stützt.2 Aus diesem Grund sollte das Erlernen gesunder Reframing-Fähigkeiten und die Förderung von Lebenssinn und innerer Harmonie auf die politische Agenda gesetzt und in die Leitlinien von Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen werden.
Wenn es um Leitlinien und sozialpolitische Massnahmen geht, ist es wichtig, sich nicht nur auf Risikofaktoren und Möglichkeiten zur Vermeidung von schwierigen Situationen zu konzentrieren, in die uns die Pandemie bringt. Der Schwerpunkt sollte auf dem Umdeuten von Schwierigkeiten, der Förderung der Akzeptanz negativer Emotionen und der Förderung von Widerstandsfähigkeit und Verantwortung liegen.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen sich nicht als passive Leidtragende oder Vermeider von Bedrohungen sehen, sondern ermutigt werden, proaktiv zu handeln, sich Herausforderungen zu stellen und die dunklen Seiten des Lebens in ein harmonisches, sinnvolles und belastbares Ganzes zu integrieren, insbesondere im Zusammenhang mit unvermeidlichen Schwierigkeiten.
Referenzen
1 Wong PTP: Made for Resilience and Happiness: Effective Coping With COVID-19. INPM Press, Toronto, 2020
2 Eisenbeck N, Carreno DF, Pérez-Escobar JA: Meaning-centered coping in the era of COVID-19: direct and moderating effects on depression, anxiety, and stress. Frontiers in Psychology 2021, 12: 667
3 Carreno DF, Eisenbeck N, Pérez-Escobar JA, García-Montes JM: Inner harmony as an essential facet of well-being: a multinational study during the COVID-19 pandemic. Frontiers in Psychology 2021, 12: 911
4 Carreno DF, Pérez-Escobar JA: Addiction in existential positive psychology (EPP, PP2. 0): from a critique of the brain disease model towards a meaning-centered approach. Counselling Psychology Quarterly 2019, 32: 415
5 Wong PTP: Existential positive psychology and integrative meaning therapy. International Review of Psychiatry 2020, 32: 565
Quelle:
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Autorin / Autor: Dr. José Antonio Pérez Escobar / Zukunftsblog der ETH Zürich - Stand: 16. Dezember 2021