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Gewinner*innenbeiträge des Kreativwettbewerbs IchDuWirVonHier
Manchmal fühlt es sich wie Zuhause an! von Gihad Orabe
Lieber Unbekannter,
Ich weiß nicht, ob Du das hier von mir lesen würdest, ich kenne Dich gar nicht und weiß auch nicht einmal wie Du aussiehst. Dennoch wende ich mich an Dich und hoffe auf Dein Interesse an dem, was ich Dir erzählen möchte, denn hier, in der „kalten, goldenen“ beschriebenen Fremde, sollte man kein Gehör bekommen.
Diese Fremde sollte von einer angeblichen kalten Herzlichkeit erfasst und gefangen sein, in der man nicht erwarten sollte, für diesen Brief einen warmherzigen Interessenten zu finden, der ihn lesen würde.
Fast volle fünf Jahre sind für mich hier vergangen, lieber Unbekannter. Ja, und gefühlt, so schnell wie ein Augenblick.
Der Abschied von einer verletzten Heimat mit verschwommenen Bildern, die viele Tränen meiner Mutter sehen ließen, ist mit den Farben des Schmerzes gemalt. Einem Schmerz, der mein Herz auf meine Heimat richtete.
Nicht nur Mutter weinte, sondern Vater hat auch Tränen für mich fließen lassen. Was mich in Verlegenheit, Angst und Trauer versetzte. Denn mein Vater hat vorher nie geweint, lieber Unbekannter!
Ich möchte Dir jetzt von den letzten Bildern meines Abschiedes erzählen.
Es war früh am Morgen und kalt, ich war nicht so richtig wach und realisierte nicht, worauf ich mich eingelassen hatte…
Ich schloss die Autotür meines Vaters, ließ die warme Hand meiner Mama los und nahm die fremde Hand entgegen. Ich ließ alles hinter mir zurück... einsam...
Der Bus fuhr den Berg hoch und ich schlug eine neue Seite meiner Geschichte im Westen auf, die ich allein mit meinem Stift schreiben möchte.
Eigentlich sollte es hier um meine neue Heimat gehen. Denn ich will Dir das Gegenteil von der kalten westlichen Fremde erzählen.
Es ist so, lieber Unbekannter! Trotz sozialer Unterschiede versuche ich meinen Bildungsweg zu gehen. Ich gehe hier zur Schule, habe Freunde gefunden, die wie eine Familie für mich sind. Sie sind nicht die Freunde, mit denen ich in den Kindergarten, oder in die Grundschule gegangen bin. Aber sie geben mir das Gefühl, schon immer hier gewesen zu sein. Ich laufe über Straßen, die mir so vorkommen, als ob ich sie schon lange kenne. Ich fühle mich hier verstanden und akzeptiert. Nicht von allen, aber von vielen. Es fühlt sich manchmal wie Zuhause an.
Du wunderst Dich?
Ja, das verstehe ich total.
Vertraut, liebevoll und warmherzig fühlt es sich an, hier in meinem Umfeld, in meiner neuen Heimat, in Deutschland.
Du fragst Dich bestimmt, wie das sein kann, wenn ich hier keine Familie habe und ganz alleine bin.
Dies ist auch eine gute Frage.
Ich habe einen Platz bei den Familien meiner Freunde einnehmen dürfen, an Weihnachten, Geburtstagen und mit schönen langen Gesprächen am Abend.
Oft sitze ich am Abend mit guten Freunden und deren Familien zusammen, wir unterhalten uns, grillen und essen zusammen. Ich habe mit meinen neuen Freunden viel erlebt, gesehen, gelacht aber auch manchmal geweint.
Diese schnell gewonnene Vertrautheit ist für mich ein Beweis, dass Kulturen, Religionen, Hautfarben und Ethnien, Menschen nicht auseinanderbringen müssen, sie nichts trennt, solange sie zusammenhalten und den Mut haben, sich ihren Ängsten zu stellen und den Mut aufbringen, das Fremde kennenzulernen. Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, ist was uns vereinen sollte. Das ist das, woran wir uns halten sollten.
Den traurigen Teil meiner Geschichte habe ich nicht vergessen, er wird mich immer begleiten.
Du fragst Dich bestimmt, wie schnell das alles passiert ist. Das weiß ich auch nicht.
Ein Gefühl der Zufriedenheit, nach einem guten Abend auf´s Fahrrad zu steigen und nach Hause zu fahren. Ich esse viele deutsche Gerichte gern und koche sie auch selber für mich, weil ich manchmal so richtig Appetit darauf habe.
Ich feiere auch Weihnachten gern mit. Es gibt mir das Gefühl der Zugehörigkeit und der Geborgenheit, Menschen um mich zu haben, die ihr Haus und ihr Herz für mich öffnen. Es gibt so viele helfende Hände, die mir meinen Weg beleuchten.
Jedoch muss ich Dir gestehen, dass ich mich selber oft nicht zuordnen kann. Ich fühle mich dann so unentschieden. Ich kann mich innerlich nicht genau für eine Seite entscheiden.
Die eine Seite ist deutsch, die habe ich durch meine Pflegefamilie bekommen, und die andere Seite, die arabische Seite, die von meinen leiblichen Eltern kommt.
Es fällt mir schwer, meine Zugehörigkeit zu bestimmen. Diese Unklarheit quält mich. Eine Identität aus zwei Extremen. Ich weiß nicht, ob sich viele, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich, so fühlen. Manchmal denke ich, es ist normal sich so zu fühlen, denn unsere Gesellschaft ist ja „Multi-Kulti“. – Eine klare Identität ist nicht unbedingt erreichbar.
Aus den Jury-Begründungen
...ehrliche, offene, berührende Schilderung von Zugehörigkeit, Identität, Vergangenheit. Sehr bewegend!
Die Sache mit der Perfektion von Luna R.
Als Kind ist es einem enorm wichtig, die Werte der Gesellschaft zu hüten. Ist es nicht so? Ich habe mich immer wie eine Superheldin in einem Blockbuster gefühlt, wenn ich mich zu ausgegrenzten Kindern gestellt und ihnen Gesellschaft geleistet habe oder wenn ich einen Streit geschlichtet habe. Ich habe fest daran geglaubt, dass es meine Aufgabe ist, Werte wie Gleichberechtigung und Gerechtigkeit weiterzugeben. Genauso hatte ich es von meinen Eltern - meinen großen Vorbildern - mitbekommen. Als Kind hatte ich eine riesige Empathie, die alle anderen Gedanken der Nebenwirkungen von Integration niemals zuließ. Zweifel an meinem Handeln wie "Was denken die anderen über mich?" oder "Ist es richtig, dieser Person zu helfen? Hat sie es überhaupt verdient?" existierten in meinem Kopf schlichtweg nicht. Ich lebte immer in meiner eigenen bunten Welt, in der alle Menschen gut sind und nie jemand aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seiner Vorlieben oder ähnlichem, bewertet wird. Geschlechter interessierten mich genauso wenig. Ich spielte, entgegen allen Vorurteilen gegenüber Mädchen, genauso viel Fußball mit den Jungen, wie ich mit meinen Freundinnen durch "Vater-Mutter-Kind" in neue Rollen schlüpfte. Und egal, in welche Gruppe ich mich während dieser Zeit integrierte, ich wurde angenommen und passte immer dazu.
Unsere Kita bestand aus einem bunten Haufen, der trotz der weitreichenden Unterschiede zusammen funktionierte.
"Die kindlichen Jubelschreie überboten sogar das begeisterte Klatschen der Eltern. Die sengende Sonne erhellte den Fußballplatz, doch am meisten strahlte unsere Mannschaft. Jedem einzelnen war es egal, wer das Siegtor geschossen hatte, Fakt war, dass wir als Team gewonnen hatten."
Wenn ihr euch jetzt fragt, ob ich diesen Text schreibe, weil alles in meinem Leben so toll läuft, kann ich dies nur verneinen. Integration meint die Wiederherstellung eines Ganzen, in unserem Fall einer Gemeinschaft und dieses Ganze, das man sich aufbaute, fing mit der Zeit immer mehr an zu bröckeln. Als wären die Ziegelsteine, die sich einmal zu einem Haus zusammenfügen sollten, nur aufeinandergelegt worden und als würde plötzlich der Wind kommen. Mit zunehmendem Alter beschäftigt man sich immer mehr damit, sich selbst anzupassen. An die neuen Trends, an die neuen Leute. Man möchte immer häufiger überall gut ankommen und dazugehören, man nimmt das ganze Integrieren viel ernster. Man möchte gefallen und überzeugen, um nicht am Ende fatalerweise allein dazustehen. Die Leichtigkeit, die man in der Kindheit verspürte, verschwand genauso plötzlich wie die Freiwilligkeit. Aus dem eigenen Antrieb wird ein Zwang, eine Überlebensstrategie. Man perfektioniert sich selbst darin, wandelbar zu sein, aber auch darin, nur seine schönen Seiten preiszugeben und gleichzeitig all das, an dem andere Kritik üben könnten, zu verstecken und in sich selbst zu begraben. Und das ist letztendlich einer der größten Gegenspieler von Integration: scheinbare Perfektion.
Nicht zuletzt ausgehend von "perfekten" Bildern auf Social Media Plattformen, entsteht eine Kettenreaktion. Wenn die Ersten anfangen, sich selbst in das bestmögliche Licht zu rücken, dann wird Integration sehr schwierig. Wenn wir den Charakter hinter dem Menschen, der eben auch durch unschöne Seiten geprägt wird, nicht kennen, dann können wir nicht herausfinden, wie wir gegenüber dem Menschen empfinden wollen und ob wir uns, in was für einer Beziehung auch immer, mit ihm zusammenschließen wollen. Somit wird auch das Misstrauen untereinander immer größer. Ist mein Gegenüber wirklich an meiner Person interessiert oder hintergeht er mich nur, um später den eigentlichen Freunden lustige Geschichten über meine Makel zu erzählen? Und so hart das jetzt klingen mag, es ist keineswegs unrealistisch, ich habe erlebt, wie Menschen alles getan haben, um sich selbst sozial abzusichern. Andererseits sind viele Jugendliche abgeschreckt von den scheinbar Perfekten und eine starke Gruppenbildung findet statt.
"Der Schulhof war noch nie so unterteilt gewesen. Dicke graue Asphaltflecken klafften zwischen den einzelnen Schüleransammlungen, die sich abgewendet vom Rest der Schüler aufgeregt unterhielten. Nach außen hin schien ihr Leben makellos. Die bunten Sommerkleider konnten das traurige Gesamtbild kaum noch vertuschen."
Man selbst ist ungewollt Teil dieses Chaos, welches weitreichende Auswirkungen hat. Die eigene Person wird wählerischer, markenorientierter und vor allem weniger außergewöhnlich. Wenn ich mit meiner Mutter Kleidung kaufen gehe, meint sie immer, mir würde alles stehen. Nach einer Milliarde an Blicken in den Spiegel bin ich immer noch wahnsinnig unsicher, ob ich wirklich so in die Schule gehen kann. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die so empfindet, denn ein einziger falscher Schritt kann die beste Überlebensstrategie dem Untergang weihen.
Nicht nur im Sektor Mode wird man durch fehlende Integration beeinflusst, auch die Essgewohnheiten können verändert werden. Es werden heutzutage schon früh bestimmte Figuren erwartet, die absolut unerreichbare Idealbilder sind. Um es so grob auszudrücken, wie es nunmal ist: Frauen müssen eine ausgeprägte Oberweite, einen großen Hintern und schöne Kurven haben, aber gleichzeitig auch schlank sein. Dagegen sind sehr trainierte Frauen "zu männlich" und untrainierte Frauen werden im Sportunterricht ausgelacht. Die Frauen, die sich nicht schminken, sind "zu unaufregend" und die geschminkten sind "zu unnatürlich". Durch diese Erwartungen entsteht ein Grundstress bei allen, die sich ungewollt mit anderen vergleichen. Es herrscht ein ständiger Konkurrenzkampf untereinander, bei dem sich einige abhungern und ihren Körper schon früh ändern, einfach um etwas mehr dazuzugehören. Aber eine Sache wissen Betroffene noch nicht: für unsere heutige Gesellschaft kann man nie gut genug sein, solange nicht die Akzeptanz von Unterschieden und die Integration jener mit Besonderheiten stattfindet.
"Dunkle Gestalten,
Die sich das Fett aus dem Leib rennend
Verschwitzt umschauen,
Panisch,
Der Bass ihrer Airpods zertrümmert ihnen die Ohren,
War nur ein Donner!
Zwei Sinne weniger wegen der Dunkelheit,
Doch ein Ziel vor Augen: Sich in eine für sie unerreichbare Form zu zwängen,
In der die Gesellschaft eine gewisse Attraktivität erkennt."
Als Kind war es mir enorm wichtig, die Werte der Gesellschaft zu hüten. Aber durch den Zwang der Integration ist dies kaum noch möglich. Man macht sich mehr Gedanken darüber, wie man sich selbst perfektioniert, anstatt andere mit offenen Armen zu empfangen. Die möglichen Nebenwirkungen von Integration wachsen in deinem Kopf zu einem riesigen Berg an, der den guten Willen überlagert. Es könnte ja schlecht aussehen, wenn du Kontakt mit den falschen Menschen aufbaust...
Integration meint die Wiederherstellung eines Ganzen. Doch die Mehrheit vergisst, dass dieses Ganze nicht vollständige Gleichheit bedeutet. Die Mehrheit vergisst, dass Integration das Zusammenschließen unterschiedlicher Individuen ist und dass Unterschiede erst eine starke Gemeinschaft ausmachen. Das, was wir brauchen, um zu dieser starken Gemeinschaft zu werden, das sind weniger exzessive Nutzung von sozialen Medien, mehr Offenheit, Akzeptanz und Empathie und vor allem weniger Angst davor, nicht perfekt zu sein.
Aus den Jury-Begründungen
...wundervoll originell, klug und eindrucksvoll verfasste Gedanken! Beeindruckend!
Und du? von Sophia Marti y Schiebel
„Woher kommst du?“ fragten sie mich mit 6 und ich nannte meinen Straßennamen.
„Woher kommst du?“ fragten sie mich mit 8 und ich wusste, dass sie nicht wissen wollten, wie meine Straße hieß.
„Woher kommst du?“, fragten sie mich mit 10 und ich sagte: „von hier.“
„Woher kommst du?“, fragten sie mich mit 12 und ich sagte: „von hier.“ „Und wirklich?“ fragten sie und ich antwortete mit den Heimatländern meiner Eltern.
„Woher kommst du?“ fragten sie mich mit 14 und ich sagte: „von hier.“ „Und wirklich?“ fragten sie und ich wiederholte „hier.“ „Wo liegen deine Wurzeln?“ fragten sie und ich antwortete doch wieder mit den Heimatländern meiner Eltern. Ich wollte nicht mehr antworten. Ich wollte doch nur so sein wie meine Freundinnen.
„Woher komme ich?“ fragte ich mich mit 16.
Und ich fragte mich das so oft, wie sie mich fragten, aber fand doch keine Antwort. Keine Antwort darauf, wieso sie sich immer nur diese eine Frage stellten, ehe sie meinen Namen kannten. Keine Antwort darauf, wieso es für sie so bedeutend war. War es Neugier? Freundlichkeit? Aber wenn es ein Schritt auf mich zu sein sollte, wieso fühlte es sich so oft an, wie ein großer von mir weg? Neugier war wie Distanz. Freundlichkeit wie eine Maske.
„Woher kommst du?“ fragten sie mich mit 18 und mir fiel die Antwort noch immer schwer. Doch ich sagte: „von hier“ und nannte noch vor weiteren Nachfragen die Heimatländer meiner Eltern. Ich war müde geworden.
„Wer bin ich, wenn ich nicht weiß, woher ich bin?“ fragte ich mich mit 18.
Und dann flog ich fort. Lebte zwischen Menschen, die beinah so aussahen wie ich. Konnte das erste Mal untertauchen, in der Masse verschwinden. Mich treiben lassen. Zahlte im Taxi weniger als meine weißen Freundinnen.
„Wie heißt du?“ fragten sie mich.
„Woher kommst du?“ wurden meine weißen Freundinnen gefragt.
Sie redeten davon, dass sie jetzt auch wüssten, wie sich dieser „Alltagsrassismus“ anfühlt. Sie mussten für das Taxi schließlich mehr zahlen als ich.
Aber ich wusste, dass sie es nie verstehen würden. Denn sie waren und werden für immer meine Freundinnen mit der weißen Haut und den hellen Haaren sein. Sie mussten nie überlegen, woher sie kamen.
„Woher kommst du?“ fragten sie mich jetzt mit 20.
Und ich denke an all die Sprüche und Blicke. An die Menschen, die abgewiesen werden. Bei der Wohnungssuche, bei Auswahlgesprächen, an den Türen des Lieblingsclubs, an Ländergrenzen. Ich denke an mich. An meine Freunde und Freundinnen, die oft nicht verstehen, aber doch lernen. An meine Familie. An meine Geschwister, die genauso wie ich immer zwischen Tür und Angel stehen werden. Aber gemeinsam können wir uns an den Türrahmen hängen, wie
damals als Kinder und hin und her schwingen. Mal in die eine, mal in die andere Welt hinein. Sie sind meine kleine Menschenmasse, in die ich untertauchen kann.
Und besonders denke ich an meine Eltern. Daran, dass ich das Zentrum einer Liebe bin, die sich über Ländergrenzen hinweggesetzt hat. Die beiden haben kulturellen Unterschieden getrotzt und sich ihre eigene Welt erschaffen.
Woher komme ich denn nun? Vielleicht werde ich es nie genau wissen, doch mittlerweile weiß ich, dass es okay ist. Denn für mich ist es nicht mehr wichtig, woher ich komme, sondern nur dahin, wohin ich gehe. Meine Heimat ist kein Land. Meine Heimat ist die ganze Welt.
Ich bin eine Weltenwandlerin.
Aus den Jury-Begründungen
...wundervoll. Ganz besondere, poetische und bewegende Umsetzung des Themas!
I, wie Integration fängt beim Postkasten an von Viola G.
Als meine Eltern nach Deutschland kamen, gab es eine Menge Dinge, die für sie Neuland waren - darunter auch der Postkasten, der nun ein größerer Teil ihres Lebens geworden war, als sie es sich jemals von einer schwarzen Metallkiste hätten vorstellen können. Nicht, dass meine Eltern nicht gewusst hätten, was dieses ganze Postsystem ist - Briefe wurden schließlich überall auf der Welt, auch in der Heimat meiner Eltern verschickt. Nur läuft dieser Prozess in jedem Teil der Welt auch etwas anders ab, sodass meine Eltern alle paar Monate mal einen Brief zugesteckt bekamen, den ein Verwandter, der in der Stadt arbeitete, im Postbüro mitnahm - aber nur wenn sich genug für das gesamte Dorf gesammelt hatte. Ein Postkasten? Fehlanzeige. Die Vernarrtheit der Deutschen, Dinge über den Briefweg zu klären, lernten meine Eltern relativ schnell kennen. Schließlich kam der Mann in der gelben Uniform mehrmals wöchentlich. Beim ersten Öffnen (wir befinden uns hier zu einem Zeitpunkt, mehrere Wochen nach der Ankunft in Deutschland), natürlich ganz neugierig, weil so schnell doch kein Brief ankommen konnte, schwappte ihnen gleich eine ganze Ladung entgegen. Dabei war kein einziger von jemandem, den sie persönlich kannten. Was davon nun tatsächlich brauchbar war und was eher nicht, war mit den noch begrenzten Deutschkenntnissen manchmal unklar, doch hier tat die Zeit und Erfahrung ihr Übriges. Und so verhielt es sich mit vielen, um nicht zu sagen allen Dingen, die meiner Familie in ihrem Leben, auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause, begegneten. Das war aber erst das Debut unseres Darstellers, denn der Postkasten hat in dieser Geschichte noch den ein oder anderen Auftritt.
Als meine Geschwister und ich ins Grundschulalter kamen, war es zu unserer persönlichen Aufgabe geworden, uns um die ankommenden Briefe zu kümmern - schließlich gingen wir ja in die deutsche Schule, hatten deutsche Freunde und konnten (nach der Logik unserer Eltern) auch besser Deutsch verstehen. Das stimmte teilweise auch, aber in den Zeiten, in denen ich Wörter wie Vogel noch mit F schrieb und mir unter der Bundesagentur für Arbeit nicht mehr vorstellen konnte, als das große rote Backsteinhaus, in das sie manchmal gerufen wurden, war es manchmal schwierig, mit meinen Eltern (und den Absendern der Briefe) auf einen Konsens zu kommen. Der Seiltanz zwischen dem Deutschen und der Heimatsprache meiner Eltern, was ich beides zwangsläufig mal mehr mal weniger beherrschte, war eine der größeren Hürden, die ich täglich zu bewältigen hatte. Ein Mischmasch aus beiden Sprachen, Wörter wie Übergestern und die Lücken im Wortschatz, wenn man lebhafter zu erzählen versuchte, machten es nicht unbedingt leichter. Es war definitiv nicht immer einfach, aber ein schöner Nebeneffekt war, dass ich meine Leidenschaft für ewig lange, komplizierte Kettensätze entdeckte und Deutsch mein absolutes Lieblingsfach wurde.
Später fand ich heraus, dass wir nicht die einzigen Kinder waren, die Hals über Kopf Übersetzer spielen mussten, wenn sie nicht gerade um die Häuser zogen. Diese Kleinigkeit gab einem damals das Gefühl, doch nicht so allein zu sein, wie man ganz am Anfang dachte.
Als mein Vater nach Jahren auf der Baustelle als Mini-Jobber (das Abitur meiner Eltern wurde hier nicht anerkannt, weshalb es nur wenig Auswahl im Bereich Arbeit gab) geschafft hatte, eine Stelle bei den Stadtwerken zu bekommen, wurden die Briefe schlagartig weniger. Keine Vorladungen mehr für meinen Vater, der bereits jahrelang händeringend nach anständiger Arbeit gesucht hatte. Keine Vorladungen mehr für meine Mutter, die mit vier Kindern, einem eigenen Kindheitstrauma und der Tatsache, dass sie sich schwer tat, die neue Sprache zu lernen, ohnehin schon schlechte Chancen hatte. Und keine Vorladungen mehr für meine Geschwister, die bereits volljährig waren, aber lieber ihr Abitur als irgendeinen schlechtbezahlten Job, den man versuchte ihnen aufzuzwingen, in Angriff nahmen. Was mich zu dem Zeitpunkt 15 Jahre Deutschland also gelehrt hatten? Ein leerer Postkasten ist ein ausgezeichneter Postkasten.
Heutzutage gehen wir alle etwas entspannter das Treppenhaus hinunter, wenn der Mensch in der gelben Uniform wieder vorbeigekommen ist. Das halb-geflüsterte „Hallo“, wenn man zufällig seinen Nachbarn begegnete und das peinlich-berührte, hastige Treppen-Hochlaufen, weil man Angst hat, in ein Gespräch zu kommen und andauernd falsche Sätze abzuliefern, gehören der Vergangenheit an. Heute redet man, lacht, hat sozialen Kontakt zu den Leuten, vor denen man (rückblickend sinnlos) voller Selbstscham weglief, nur um nicht verurteilt zu werden.
Man könnte meinen, dass dieses unzertrennliche Team, wir und der Postkasten eine ziemliche Entwicklung durchgemacht hat. Deutschland war schon immer für mich mein Zuhause, für meine Eltern wurde es das mit der Zeit. Trotzdem bekommt man auch heute noch von außen manchmal das Gefühl, in Deutschland ein Ausländer zu sein, und im Heimatland wird man als Deutscher bezeichnet - man weiß nie so recht, weshalb man so direkte Grenzen ziehen muss, denn wir wissen es leider selbst nicht besser, was oder wer wir eigentlich sind. Aber schließlich kann nicht alles so gut laufen, wie mit dem Postkasten. Selbst der lässt einen manchmal im Stich. Wie oft ich schon an mich adressierte Briefe bekommen habe, bei denen mein Nachname - ein für hier zugegeben unüblicher - eher einer Buchstabensuppe glich, so verkehrt wie er wieder geschrieben war. In solchen Momenten fällt einem wieder ein, dass man ja irgendwie doch noch was anderes als deutsch ist und fragt sich: Bin ich hier eigentlich wirklich angekommen?
Diese kleine Analogie schafft es bei weitem nicht einzufangen, wie vielschichtig und komplex es ist, als Migrantenfamilie durch diesen gesamten Prozess, den wir Integration nennen, zu gehen. Der Postkasten ist einer von vielen kleinen Dingen, die mir persönlich dabei aufgefallen sind. Was ich damit sagen möchte, ist, dass man auf diesem Weg sehr wohl Rückschläge erlebt, aber eigentlich nie stehen bleibt. Das man bei diesem Vor und Zurück eine Menge lernt und Erfahrungen sammelt, ist Teil des Ganzen. Irgendwie entwickelt man sich selbst, aber auch alles um einen herum, sodass Vergangenheit und Gegenwart Welten voneinander entfernt erscheinen können. Der schwarze Postkasten, dessen Farbe mittlerweile etwas abblättert, steht symbolisch genau dafür. Und die Lehre, die ich aus dieser Geschichte ziehe, ist, dass, egal wie einsam man sich auf diesem Weg fühlt, man nie alleine ist - schließlich haben wir alle unseren persönlichen Postkasten, stimmts?
Aus den Jury-Begründungen
Hinterlässt den Leser am Ende mit einem Lächeln, weil man sich nie Gedanken darüber gemacht hat, was so ein Postkasten alles bedeuten kann. Gut abgeholt und eingefangen! Auf eine lockere Art tiefgründig berichtet.
Momente einer Freundschaft von Gerrit-Freya Klebe
ER
Erster Tag
–Hallo, sagst du.
Salam, sage ich.
Ein schüchternes Lächeln.
Ich kenne niemanden hier,
nicht einmal mich selbst.
Habe nur den Busfahrplan auswendig gelernt,
um den Weg zu finden.
Dein Land ist mir noch fremd,
ich kannte es aus dem Atlas.
Habe mit dem Finger die Umrisse
nachgezeichnet, immer wieder.
Es ist noch viel schöner als auf den Bildern,
das würde ich gerne sagen.
Doch das Wörterbuch lähmt mich.
Fremde Worte tanzen in meinem Kopf,
Buchstaben türmen sich vor meinen Augen auf.
Ein Auto fährt vorbei.
Wie es mir geht, fragst du.
Aber ich kann nicht antworten,
der Wind hat meine Vokabeln weggeweht.
Du nimmst mir den Ordner aus der Hand
und sammelst die Blätter ein.
Was heißt Danke in deiner Sprache?
Morgen weiß ich es.
ICH
Zwei Nussschnecken
Ein Brett in der Mitte,
darauf zweimal Gebäck und Haselnussraspeln im Gegenlicht.
Teig zerfällt zwischen Fingern.
Am Boden liegen Krümel.
In meiner Tasche
eine Packung Zimtbutterkekse,
ich wusste ja nicht,
was davon halal ist.
Aus den Jury-Begründungen
Wunderschön geschrieben. Poetische, ausdruckstarke und bildhafte Zeichnung einer Freundschaft!
Solitär? Same. von Itohan
0.16- start
Umzingelt von Laura, Marie, Leo und Franz
Ich fühle mich unwohl
Denn ich bin die einzige Schwarze
Das kann nicht sein
Nein Nein
Das ist doch nur Schein
Denn ich weiß
Irgendwo
Muss doch noch eine sein
Die Leute fragen mich
Warum ist deine Haut so dunkel
Wenn ich es wüsste
Frage meine Mama
Sie schmunzelt
Und sagte mir
Schatzi
Du bist aus Afrika
Mach dir keine Sorgen
Baby du schaffst das ja
0.34 (Pause)
0.39
Mittlerweile bin ich 19
Mich kann man nicht übersehen
Mach mein Abi
Und bin die eine von zehn
I speak up
Auch wenn es
hypothetisch klingt
paradox
wird’s nur wenn es
mir nicht gelingt
0.48
(pause)
0.52
Umzingelt von Lina, Tim, Tom und Hans
Und sie fragten mich
Wäschst du deine Haare
Aber ganz?
Akzeptanz und Verständnis?
So etwas habe ich nicht
Sagte mir eine Omi
Mit ´nem großen Gebiss
Ist es Ich. Du. Wir von Hier?
Oder Du. Wirklich. Geboren hier?
Ja, ich bin Deutsche aber mit
„Migrationshintergrund“
Keine weiteren Fragen
Bin ich hier im Interview?
Schoßhund.
Was ist das schon
Für eine Definition?
nicht nur in
Europa, Deutschland
Wo ist die Petition?
Wir sehen es,
auf dem ganzen Planet
ja überall liegen
unbewusste
Feindlichkeitsraketen
Und sie machen boom boom biggity boom
Boom (*6)
1.27
(pause)
1.30
In der Schule lernen wir nicht
worum es eigentlich geht,
Stattdessen fokussiern wir uns
Auf f(x) = g
Sehe, schwarze Rapper
In den charts
They going hard
Talking about
Lets make peace and not war
Oui! we? We
Can’t change the past
But lets make a better future
With you me and us
Wherever we're from
I know it is right
This is our culture
Let is shine shine bright
Aus den Jury-Begründungen
Besonders und kraftvoll. Außergewöhnliche Umsetzung. Voller Rhythmus und Energie!