Aphantasie ist nicht fantasielos

Was Menschen "sehen", denen die Fähigkeit fehlt, sich etwas bildlich vorzustellen

Bild: Sarema Babayeva

Bestimmt kennt ihr das: Ihr schaut euch die Verfilmung eures Lieblingsbuches an und seid mega enttäuscht, dass die Figuren so ganz anders aussehen, als ihr sie euch vorgestellt habt. Was aber, wenn man zu den Menschen gehört, die sich gar kein Bild über das machen können, was ihnen beschrieben wird? Dieses Phänomen wird in der Wissenschaft Aphantasie genannt; schätzungsweise 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung sind lebenslang nicht in der Lage, Bilder vor ihrem geistigen Auge zu erzeugen.

Aber wie kann man sich an Details eines Objekts oder eines Ereignisses erinnern, wenn man es vor dem inneren Auge nicht sehen kann? Dieser Frage sind Dr. Zoe Pounder und ihre Kolleg_innen von der University of Westminster in London nachgegangen. Das Team untersuchte, inwiefern sich die visuelle Gedächtnisleistung von Menschen mit Aphantasie von jenen mit typischen Vorstellungsfähigkeiten unterscheidet. Dazu zeigten sie den Teilnehmer_innenn drei Bilder eines Wohnzimmers, einer Küche und eines Schlafzimmers und baten sie, jedes aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Ihre Zeichnungen wurden objektiv von über 2.700 Online-Bewerter_innen überprüft, die die Objektdetails (wie die Objekte aussahen) und die räumlichen Details (die Größe und Lage der Objekte) bewerteten.

"Wir hatten erwartet, dass es Menschen mit Aphantasie schwer fallen würde, ein Bild aus dem Gedächtnis zu zeichnen, da sie diese Bilder nicht vor ihrem geistigen Auge abrufen können. Unsere Ergebnisse zeigten aber, dass sie die Objekte in der richtigen Größe und an der richtigen Stelle zeichneten", erklärt Zoe Pounder in einem Artikel für das Online-Magazin The Conversation. Allerdings hätten sie weniger visuelle Details wie Farbe gezeichnet und auch eine geringere Anzahl von Objekten im Vergleich zu den typischen Bildautor_innen. Diese Unterschiede waren auch nicht auf verschiedene künstlerische Fähigkeiten oder den Zeichenaufwand zurückzuführen.

Einige Teilnehmer_innen mit Aphantasie ersetzten das zu zeichnende Objekt einfach durch die Worte, zum Beispiel "Bett" oder "Stuhl". Dies deutet laut Pounder darauf hin, dass sie alternative Strategien wie verbale Vorstellungen anstelle des visuellen Gedächtnisses verwenden könnten.

Laut den Studienergebnissen verfügen Menschen mit Aphantasie über intakte räumliche Vorstellungsfähigkeiten, sie können also Größe, Lage und Position von Objekten in Relation zueinander genau so gut darstellen wie Menschen mit typischer Bildvorstellung. Auch die Leistung bei der klassischen mentalen Rotations-Bilder-Aufgabe, bei der Menschen Formen in unterschiedlichen Drehungen vergleichen, war ähnlich zur Vergleichsgruppe.

"Diese Leistung deutet darauf hin, dass man nicht mit dem geistigen Auge 'sehen' muss, um diese Aufgaben auszuführen", so Pounder. Manche Versuchspersonen mit Aphantasie hatten allerdings Schwierigkeiten beim Erkennen von Gesichtern und berichteten auch über ein schlechtes autobiografisches Gedächtnis. Bei der Erinnerung an Lebensereignisse nimmt man an, dass sie stark auf visuellen Bildern beruht.

*Leben mit Aphantasie*
Nicht jede_r mit Aphantasie erfährt ein komplettes Fehlen von Bilderfahrungen in allen Sinnen. Manche können vielleicht eine Melodie im Kopf hören, aber können sich keine visuelle Bilder im Zusammenhang mit dieser Melodie vorstellen. Trotzdem berichten einige aber, dass sie in Träumen sehr wohl visuelle Bilder erleben. Andere wiederum träumen nicht in Bildern, sondern eher in Konzepten oder Gefühlen.

"Diese faszinierenden Variationen illustrieren einige der unsichtbaren Unterschiede, die zwischen uns existieren. Obwohl sich viele Menschen mit Aphantasie vielleicht nicht bewusst sind, dass sie die Welt anders erleben, wissen wir, dass Menschen mit Aphantasie ein erfülltes und erfolgreiches Leben führen. Es hat sich sogar gezeigt, dass Menschen mit Aphantasie oft in wissenschaftlichen und kreativen Branchen arbeiten", erklärt Pounder und führt weiter aus: "Für Viele sind visuelle Bilder ein wesentlicher Bestandteil ihres Denkens, ihrer Erinnerung an vergangene Ereignisse und ihrer Zukunftsplanung. Warum es solche Variationen gibt und was ihnen zugrunde liegt, ist nicht klar. Aber, wie die Aphantasie gezeigt hat, werden viele unserer mentalen Erfahrungen nicht universell erlebt. Es gibt in der Tat eine Reihe von unbewussten, aber faszinierenden Unterschiede zwischen den Menschen."

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