Carl

Von Ruben Faust, 18 Jahre

Die Türen des Rathauses öffnen sich mit einem Zischen. Über mir erstreckt sich ein riesiger Tunnel aus Stockwerken, den man bis hoch zum 70. Stock sehen kann. Ich bin für eine Sekunde geblendet, als ein Augenscanner mich erkennt, als sicher einstuft und in das Gebäude hineinlässt. Eine große Gruppe an Menschen hört gerade Mary zu, die den Touristen das städtische Hivemind erklärt.

„Seit 2057 führen wir hier in London das Experimentalprojekt Hivemindcity durch. Die Stadt ist ein selbst-regulierender Kosmos, wie wir hier zu sagen pflegen. Wir haben damals die  Verwaltung der Stadt in die Hand einer Künstlichen Intelligenz gegeben, die die Region selbständig verwaltet, Verkehr auf ruhigere Strecken leitet, mehr Züge fahren lässt, wenn Bedarf besteht und weiß, wo jeder Bürger sich befindet, bei Notrufen die Polizei schnellstmöglich an Tatorte schicken kann und im Falle von Terrorismus die ganze Stadt anhalten kann. - Zum Glück ist das noch nie passiert. Aber die KI hat noch viel mehr gemacht. Als sie eingeführt wurde, war London nichts weiter als ein Schandfleck auf der Erde. 'Ein Haufen Müll, in dem Menschen wohnen', hatte ein Autor in den 2030ern über die Stadt gesagt. Eine der ersten Dinge, die die KI getan hat, war Hovercars verpflichtend einzuführen. Die Staus, die es in der Stadt bereits seit dem frühen 21. Jahrhundert gab, haben die Luft verpestet und den Boden überfüllt, also wurde dafür gesorgt, dass alle fliegen, übereinander“, erklärt sie, wie jeden Montag, Mittwoch und Samstag. Sie verschweigt jedes Mal, dass Carl, so nennen wir die KI intern, nach ihrem Schöpfer Carl Gitens, auch unsere Arbeitspläne und Schichtpläne verwaltet.

Ich gehe weiter, nachdem ich ihr, wie jeden Montag, eine Minute zugehört habe und begebe mich in den Fahrstuhl. Der Augenscanner blendet mich ein weiteres Mal und der Fahrstuhl befördert mich dann auf schnellstem Wege zum Büro der CC (Carl Control). Auf dem Weg dahin sehe ich Hunderte Menschen auf jedem Stockwerk, ihrer langweiligen Büroarbeit nachgehen.

„Haben Sie noch nichts von Anklopfen gehört, Robert?“, fragt mich Chief Oleen genervt. „Jeden Morgen muss ich Ihnen das sagen.“
„Entschuldigen Sie, Miss. Gibt es Arbeit?“, entgegne ich – ebenfalls wie jeden Morgen – und stütze mich auf den Schreibtisch, um die Aufträge zu sehen.
„Robert. Das ist die zweitgrößte Stadt der Welt, fast 70 Millionen Einwohner – Es gibt immer Arbeit. Vor ein paar Minuten hat das NYPD angerufen, es gab einen, der wohl aus dem dortigen Gefängnis entflohen sein soll und sich in den nächsten Zug in unsere Richtung gesetzt hat.“
„Er wird ja wohl nicht so dumm sein und hier aussteigen.“
„Für den Fall, dass er so dumm ist: Sie und Officer Brice fahren nach Heathrow Station, fangen den Zug dort ab, durchsuchen ihn während der Fahrt nach Central und nehmen ihn wieder fest. Seine biometrischen Daten sind unten an der Rezeption für Sie beide hinterlegt. Roman war vor zwei Minuten hier und wurde schon instandgesetzt.“
„Ay, Chief.“
Die Amerikaner müssen wirklich an ihren Gefängnissen arbeiten. Seit Carl die Verwaltung übernahm, haben wir hier das norwegische Gefangenhaltungsprinzip übernommen und seit 2071 ist auch keiner mehr geflohen.

„Hey, Roman! Wir haben was zu tun!“, rufe ich in die Lounge mit dem Wolkenbalkon. Eigentlich mag ich Roman, aber wenn es nach mir ginge, würde ich nicht mit ihm zusammenarbeiten. Er ist ein guter Mensch, aber kein guter Cop.
„Du wurdest schon gebrieft, oder?“, fragte er.
„Natürlich nicht...“, entgegne ich sarkastisch – es war nicht so lustig wie gewollt.
„Sollen wir Carl vielleicht bitten, den Zug zwischen Heathrow und Central zu verlangsamen, damit wir mehr Zeit haben, den Zug zu durchsuchen?“
„Ich weiß nicht. Heute scheint mir kein guter Tag dafür. In 2 Tagen ist die große Präsentation und wenn diese Verbindung unterbrochen wird, wirft das kein gutes Licht auf die Verwaltung.“
Carl arbeitet seit fast 40 Jahren. Da wird ja wohl eine einzelne Bahn nicht das ganze Image zerstören.“
Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Roman weiß, dass es hier darum geht, ob Carl wieder abgestellt werden soll.
„Wir versuchen es vorerst ohne Carl, durch so etwas Banales die Stadt lahmzulegen.“, sage ich abschließend. Inzwischen sind wir mit dem Fahrstuhl wieder im Erdgeschoss angekommen und gehen zur Rezeption.
„Officer Shane und Brice melden sich zum Dienst. Fall-Nummer D4F8F“, sagt Roman zur Rezeptionistin. Diese holt als Antwort einen Augenscanner aus ihrer Schublade und lässt unser beider Augen scannen. Bei dem Scan werden auch die Daten übertragen. Roman und ich bedanken uns und gehen. Zum Abschied winke ich Mary noch einmal, die inzwischen über die lange Geschichte des Rathauses spricht und wie es sich mit der Zeit verändert hat.

Vor dem Rathaus erstreckt sich eine Landschaft aus identisch aussehenden, gläsernen Hochhäusern, die alle weit höher gehen als die Wolken. Hovercars, so weit oben, dass sie mehr kleine Punkte im Himmel als Fahrzeuge sind, lassen durch ein Spiel aus Schatten hier am Boden die saftigen grünen Wiesen mal mehr und mal mehr weniger leuchten. Die Kirschbäume, die Carl vor ein paar Jahren hat pflanzen lassen, blühen gerade ab und ihre Blüten fallen in der sanften Brise herab.

„Findest du nicht auch, dass das hier der beste Arbeitsplatz der Welt ist?“, fragt mich Roman. Er hält einfach nicht eine Minute Stille aus... „Ich meine – das können sich die Menschen früher doch gar nicht vorgestellt haben.“
„Früher dachten die Menschen auch, die Erde sei flach.“
„Robert. Immer machst du jeden Gedanken kaputt.“
„Du erzählst mir jedes Mal, wenn wir hier sind den gleichen Gedanken. Diese Ecke ist nur so herausgeputzt, damit das Komitee Carl aktiviert lässt. Er möchte, dass alles blitzt und glänzt, seine perfekte Welt zeigen, damit noch andere Städte das Prinzip übernehmen.“
„Du hast doch nicht etwa etwas gegen Carl?“
„Nein. Ich bin nur der Meinung, dass Carl sich auch um die Randbezirke kümmern sollte. High Barnet, Cockfosters und Richmond sehen nicht so schön aus. Carl kümmert sich nicht um die Stadt. Er kümmert sich darum, weiterhin arbeiten zu dürfen.“
Entsetzt schaut Roman mich an. In dieser Sekunde kommt ein Hovercar vor dem Rathaus an. „Sicherheitstransport für Officers Brice und Shane, Fall D4F8F“, sagt die Stimme, die auch Carl gehört. Wir setzen uns hinein und prompt fliegen wir los in Richtung Heathrow Station. Roman schaut mich immer noch vorwurfsvoll an.
„Roman. Dir ist bewusst, dass wir in einer Demokratie leben, in der ich eine Meinung haben darf und diese auch aussprechen darf.“
„Vielleicht habe ich dich einfach nur sehr falsch eingeschätzt.“

Was hat das denn jetzt zu bedeuten? Ich habe eigentlich nie gezeigt, dass ich DER große Befürworter von Carl bin. Ich bin mit Carl aufgewachsen und ich habe nie ein London ohne ihn gekannt, aber das heißt nicht, dass ich nicht auch schlecht darüber denken kann. Carl hält die Stadt sicher und sorgt dafür, dass der Verkehr gut läuft. Und in den letzten Jahren wurden auch mehr und mehr Stadtplanungsrechte an ihn vergeben, aber er ist kein Mensch. Er ist viel mehr als das und er kümmert sich nicht um Menschen. Er hat die Underground wieder groß gemacht, nachdem diese in den 2030er Jahren teilweise geschlossen wurde, er hat die Oxford Street, den Piccadilly Circus, das Rathaus und Buckingham Palace schön gemacht. Aber die Randbezirke sind ihm egal – und leider auch den Menschen, die Carl überwachen...
Inzwischen sind die Hochhäuser von der Innenstadt nur noch kleine Striche über dem Meer von eintönigen grauen gleich großen, gleich hohen, gleich grauen Wohneinheiten, die da sind, wo früher mal Stadtviertel waren. St. Paul`'s Cathedral steht noch, der Shard existiert noch und der Elizabeth Tower und Palace sind noch da, wo sie immer waren. Aber der Rest ist nur noch eine graue Masse. Dass der Rathausvorplatz so schön aussieht, liegt an Carl. Das ist das, was das Komitee sehen wird, und Carl weiß das.

„Roman, sag mal. Dieser Typ. Steht bei dir, warum er gefangen gehalten wird?“, frage ich nach einigen Minuten.
„Warte kurz. Nein. Hier steht nichts über einen Grund.“
„Das ist komisch. Na ja. Es sind eben Amerikaner.“
Ich denke natürlich noch weiter darüber nach, warum man uns diese Information nicht gegeben hat. Normalerweise wissen wir bei Flüchtigen immer, warum sie festgehalten werden. Ich bin ehrlich gesagt auch nicht bereit, diesen Mann, ohne weiter nachzufragen, wieder den Amerikanern zu überlassen.

„Kommt dir der Name auch bekannt vor?“, fragt er plötzlich.
Jonathan Herling...
„War das nicht der Mann, der sich in den 50ern gegen die Einführung von K.I.s eingesetzt hat? Ist der nicht schon seit Jahren tot?“
„Das dachte ich auch gerade.“

Eine Nachricht erscheint im Hovercar: „An alle Officers im Einsatz. Ein Flüchtiger aus New York hat gerade einen Zug entführt, droht, jede Stunde mit einer toten Geisel an Bord zu beginnen, bis Carl abgeschaltet wird. Begeben Sie sich alle auf schnellstem Wege nach Slough!“

Das Hovercar hat bereits seine Richtung geändert, wenn auch nicht sehr weit. „Zugriff auf die Zentrale Historik Datenbank“, sage ich laut, „Was steht dort über Jonathan Herling?“

„Jonathan Herling, geboren 2031, studierte an der Oxford University Informatik und Soziologie und arbeitete bis 2055 am Carl-Projekt. Nach dem plötzlichen Tod von Schöpfer Carl Gitens setzte er sich verstärkt gegen K.I.s für Verwaltung von Städten ein. Seiner eigenen Aussage nach sei übermenschlichen künstlichen Intelligenzen nicht zu trauen. Als die städtische Verwaltung im Januar 2057 an die K.I. übergeben wurde, ist Jonathan Herling verschwunden. Nachdem man ihn für 8 Jahre suchte, wurde er im Mai 2065 für tot (in absentia) erklärt.“

„Er hatte also mit daran gearbeitet? Warum hat er dann dagegen demonstriert? Erscheint mir etwas merkwürdig, erst an etwas zu arbeiten und wenn das eingesetzt werden soll, sich aus jeder Faser dagegen zu stellen“, sage ich nachdenklich.
„Und offensichtlich ist er nicht tot“, fügt Roman hinzu. „Wie alt war Carl Gitens bei seinem Tod?“
„Carl Gitens starb durch unbekannte Einflüsse am 7. Oktober 2055. Er wurde 46 Jahre alt“, antwortete der Boardcomputer des Hovercars.
„Ich finde 46 auch etwas früh. - Auch für die 2050er. Das mögen andere Zeiten gewesen sein als heute, aber trotzdem.“
„Worauf willst du hinaus, Robert?“
„Was, wenn eine frühe Version von Carl Herling und Gitens umbringen wollte, damit sie am Leben bleibt. Was, wenn die beiden realisiert haben, dass Carl vielleicht eine große Gefahr wäre?“
Carl war das Beste, was dieser Stadt hätte passieren können. Es gibt quasi keine Gewalt mehr! Die Stadt ist sauber und die Menschen leben hier gesund und lang. Und außerdem: Wie hätte Carl denn bitte eine Gefahr sein sollen? Man kann ihn doch einfach abschalten!“
„Was wenn Gitens und Herling genau das versucht haben – und gescheitert sind? Carl hat dafür gesorgt, dass Gitens tot und Herling in Gefangenschaft ist – offensichtlich ohne dass das öffentlich ist. Was wenn Carl nicht ausgeschaltet werden kann, weil er viel intelligenter ist als jeder Mensch?“
Roman schaut mich noch erschrockener als eben erst.
Das Hovercar beginnt den Landeanflug.
„Wir sollten doch noch gar nicht in Slough sein. So wie es hier aussieht, sind wir gerade erst in Richmond!“, merkt Roman an.
„Hovercar? Warum landen wir?“, frage ich.
„Officers Brice und Shane. Die Hivemindcity hat beschlossen, Sie vom Dienst zu befreien.“
Carl mag uns wohl nicht“, sage ich. Diesmal bin ich der Vorwurfsvolle. Carl mag uns wohl nicht. Carl möchte überleben – aktiviert bleiben. Eine K.I., die intelligenter ist als jeder Mensch, und sie kontrolliert unser Leben. Das war es, was Gitens und Herling damals auch aufgefallen ist, und bei dem Versuch, sie zu deaktivieren, wurden die beiden aus dem Weg geräumt. Carl würde alles tun, um zu überleben. Und jetzt sind wir ihm auf die Schliche gekommen und er muss verhindern, dass wir ihn deaktivieren. Ein paar Tote Geiseln, das kann Carl verkraften. Im Notfall soll die Stadt stillstehen. Für Carl wäre eine Befreiung der Geiseln schlecht. Carl würde deaktiviert werden. Carl würde sterben.

Autorin / Autor: Ruben Faust