Self-Nudging ist eine verhaltenswissenschaftliche Methode, die zu mehr Selbstkontrolle verhelfen kann
Die Selbstisolation in Zeiten der Corona-Beschränkungen stellt jede_n von uns vor die Herausforderung, das eigene Leben neu zu strukturieren. Wir verbringen mehr Zeit zu Hause, kochen selbst statt in der Kantine zu essen, können nicht in unser Fitnessstudio gehen und sehen unsere Freund_innen und Verwandte entweder gar nicht oder nur noch online. Da fällt es schwer, gewissen Verlockungen zu widerstehen – auch wenn wir wissen, dass sie eigentlich nicht gut für uns sind. Wir greifen zum überzuckerten Snack statt zu Gemüse, bleiben stundenlang an Social-Media-Feeds hängen und machen einen Serienmarathon auf dem Sofa statt joggen zu gehen. Wir entscheiden uns oft für die kurzfristig bequemere, genussvollere oder attraktivere Option statt für die, die langfristig besser für uns ist. Menschen haben biologische, psychologische und soziale Schwachstellen, die zum Beispiel auch Unternehmen in der Werbung oder bei der Gestaltung von Apps oder Produkten ausnutzen.
*Selbstkontrolle stärken*
Eine verhaltenswissenschaftliche Methode, mit der jeder seine Fähigkeiten zur Selbstkontrolle stärken kann, stellen Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, und Samuli Reijula, Philosoph an der Universität Helsinki nun im Journal Behavioural Public Policy vor. Mit dem sogenannten Self-Nudging könne jeder seine unmittelbare Umgebung so verändern, dass gewünschte Entscheidungen leichter fallen, so die Autoren.
Die Nudges, zu Deutsch: Stupser, helfen uns dabei, selbst gesteckte, langfristige Ziele zu erreichen. Dabei müsse man jedoch zunächst verstehen, wie unsere Umgebung unsere Entscheidungen beeinflusst – zum Beispiel die ständigen Benachrichtigungen von Apps auf unserem Smartphone oder der Inhalt des eigenen Kühlschranks. Im zweiten Schritt verändert man dann diese Bedingungen: wir machen es uns selbst leichter, die Entscheidungen zu fällen, die wir wollen. Wir geben uns dadurch selbst Stupser in die gewünschte Richtung.
*Vier Möglichkeiten, das eigene Verhalten zu beeinflussen*
Die Self-Nudging-Werkzeuge teilen die Forscher in ihrem Artikel in vier Kategorien auf: (1) Erinnerungen und Hinweise für sich selbst platzieren; zum Beispiel das Foto eines Apfels auf der Kühlschranktür oder die Jogging-Schuhe vor dem Bett. (2) Den Entscheidungen einen anderen Rahmen geben (Framing). Beispielsweise können wir die Entscheidung zwischen Joggen oder Nichtjoggen auch als eine Entscheidung zwischen Gesundheit oder Krankheit im Alter framen oder jede Treppe als eine Gelegenheit willkommen heißen, unsere Lebenserwartung minimal zu erhöhen. (3) Die Zugänglichkeit zu Dingen, die uns schaden können, verringern und Hürden einbauen, oder umgekehrt die Dinge, die wir wollen, einfach machen; zum Beispiel Benachrichtigungen von Social-Media-Apps ausschalten. (4) Sich etwas Druck und Selbstverpflichtung mittels sozialer Verträge aufbauen. Indem man sich zum Beispiel gegenüber einem Freund oder einer Freundin zu einer finanziellen Spende für eine politische Partei, die man wirklich nicht mag, verpflichtet, sofern man die Frist für die Abgabe einer Arbeit nicht einhält.
*Innere Verhandlungsprozesse*
„Wir alle haben in unseren Köpfen und Körpern verschiedene Bedürfnisse und Wünsche, die ständig miteinander in Verhandlung treten. Self-Nudging kann dabei helfen, bewusster mit diesen inneren Verhandlungsprozessen umzugehen. So kann mit ganz praktischen Werkzeugen die Selbsterkenntnis gefördert werden“, sagt Samuli Reijula, Philosoph an der Universität Helsinki.
Das Self-Nudging macht sich die Forschung zum Nudging zunutze, das in der Psychologie, der Verhaltensökonomie und der Politik in den letzten Jahren an Popularität gewonnen hat. Um Menschen zu gesünderen und rationaleren Entscheidungen zu bewegen, soll ohne Verbote oder finanzielle Anreize das Verhalten von Menschen in eine gewünschte Richtung gesteuert werden. Doch ist Nudging unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht unumstritten.
*Staatliche Aufgabe: Informieren statt Nudgen*
„Beim Nudging gibt es immer ein Informationsgefälle. Wenn zum Beispiel der Staat Nudging einsetzt, bestimmt er das Verhalten der Bürger, indem er entscheidet, was gut für sie ist und sie mit Maßnahmen in diese Richtung stupst. Die Bürger wissen manchmal nicht mal, dass oder wie sie genudged werden. Die Gefahr des paternalistischen und manipulierenden Staats steht im Raum“, sagt Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Zudem könne die Politik dadurch nur Veränderungen im öffentlichen Raum erreichen, obwohl viele Entscheidungen im privaten Raum gefällt werden. Mit Self-Nudging lässt sich sowohl das Problem des Informationsgefälles als auch die Unzugänglichkeit des privaten Raums umgehen.
*Öffentlicher vs. privater Raum*
Ein typisches Beispiel für einen Nudge ist die Platzierung von Obst auf Augenhöhe an der Kasse von Mensen und Schulkantinen, während der Kuchen in einer hinteren, schwer erreichbaren Ecke versteckt wird. Da die Politik um die langfristig gesundheitsschädliche Wirkung von der angeborenen Lust auf Süßes weiß, könnte sie durch die Veränderung der Essensplatzierung in öffentlichen Mensen die Entscheidungen der Menschen beeinflussen. Doch schon beim Abendessen zu Hause kommen diese Nudges nicht mehr an. Self-Nudger hingegen erkennen, welche Faktoren in der Umgebung ihre Selbstkontrolle auf die Probe stellen und können sich die gleichen Prinzipien, wie sie beim Nudging im öffentlichen Raum verfolgt werden, zunutze machen. So könnten sie beispielsweise entscheiden, Süßigkeiten in der eigenen Küche ganz hinten im obersten Küchenregal aufzubewahren.
„Auf diese Weise ist es nicht mehr der Staat, der uns anstupst, sondern wir stupsen uns selbst an – sofern wir es möchten. Und wenn der Staat gezielt und verständlich über Wege zum Self-Nudging informiert, beispielsweise mit Faktenboxen, Apps oder Broschüren, kann er gesellschaftlich akzeptierte Ziele wie eine gesündere Ernährung verfolgen, indem er Bürger dabei unterstützt, aufgeklärte und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen“, sagt Ralph Hertwig.