Desinformiert und polarisiert
Finnische Studie untersuchte, welche Gruppen sich von Falschinformationen täuschen lassen und wer bereit ist, seine Haltung zu ändern, wenn reale Bedingungen es erfordern
2024 wird das größte Wahljahr aller Zeiten: Weltweit sind über vier Milliarden Menschen aufgefordert, an die Wahlurnen zu gehen. Gleichzeitig stellen Desinformation und Polarisierung in den sozialen Medien eine noch nie dagewesene Herausforderung dar. In einer neuen Studie der Aalto-Universität und der Universität Helsinki wurde untersucht, wie sich reale Welt-Konflikte auf Online-Diskussionen auswirken. Anhand des Ukraine-Kriegs und des NATO-Beitritts Finnlands schauten sich die Forscher:innen an, wie Desinformation die Polarisierung verstärkt.
"Das Potenzial für eine demokratische politische Beteiligung in der Welt ist größer denn je", sagt Tuomas Ylä-Anttila, außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität Helsinki. Gleichzeitig stellt der bewusste Einsatz von Desinformation durch diejenigen, die demokratische Prozesse stören und eine Polarisierung herbeiführen wollen, eine Gefahr für die Demokratie und die gesellschaftliche Stabilität dar."
Die Untersuchung war eine Fallstudie darüber, wie Russlands Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 die Diskussionen über die NATO im finnischen Twitter-Raum unmittelbar danach beeinflusste. Die öffentliche Meinung in Finnland war lange Zeit gespalten, was den NATO-Beitritt anging, und nur etwa 20 bis 30 Prozent waren dafür. Die russische Invasion führte zu einem raschen Anstieg der Befürworter eines Beitritts, sodass Finnland einen Antrag auf Mitgliedschaft stellte. Die NATO und Russland sind wichtige Themen im Wahlkampf für die finnischen Präsidentschaftswahlen, die Ende Januar stattfinden werden.
Der russische Einmarsch hat die NATO-Diskussionen in Finnland zwar rasch entpolarisiert, aber die soziale Blase die auf Desinformation und Verschwörungstheorien aufgebaut ist, konnte offenbar nicht erreicht werden, resümieren die Forscher:innen. „Durch die Analyse von Retweeting-Mustern fanden wir drei verschiedene Nutzergruppen vor der Invasion: eine Pro-NATO-Gruppe, eine linke Anti-NATO-Gruppe und eine verschwörungsorientierte Anti-NATO-Gruppe", sagt Yan Xia, von der Aalto-Universität und Hauptautor der Studie. "Nach der Invasion brachen die Mitglieder der linken Anti-NATO-Gruppe aus ihrer Retweeting-Blase aus und schlossen sich trotz ihrer unterschiedlichen Parteizugehörigkeit der Pro-NATO-Gruppe an, während die verschwörungsorientierte Anti-NATO-Gruppe größtenteils eine separate Gruppe blieb".
Die Untersuchung ergab, dass die linke Anti-NATO-Gruppe und die Pro-NATO-Gruppe durch eine gemeinsame Verurteilung der Handlungen Russlands und gemeinsame demokratische Normen verbunden waren. Die andere Anti-NATO-Gruppe, die sich hauptsächlich auf Verschwörungstheorien und Desinformation stützt, blieb dagegen bei ihrer klaren Anti-NATO-Haltung.
Verhindern starke Meinungen Informationsaufnahme?
„Eine Bedrohung von außen kann parteipolitische Gräben überbrücken, aber durch Verschwörungstheorien und Desinformation aufrechterhaltene Blasen können auch bei dramatischen Bedrohungen von außen fortbestehen", schlussfolgert Ylä-Anttila. Er vermutet, dass der Bestand dieser Blasen sich dadurch erklärt, dass die Menschen in den Desinformationsräumen nur begrenzt mit anderen außerhalb ihrer Blase kommunizieren können, was ihre früheren Überzeugungen eher bestärkt. Ylä-Anttila zufolge ist dieser Effekt nicht auf finnische NATO-Diskussionen beschränkt.
„Menschen, die eine starke, nicht dem Mainstream entsprechende Meinung haben, halten oft eher an ihren Überzeugungen fest. Sie neigen eher dazu, Informationen zu ignorieren, die ihren eigenen Überzeugungen widersprechen", so Ylä-Anttila. Für die demokratische Entscheidungsfindung sei es wichtig zu wissen, dass diese Desinformationsblasen ein Teil unserer politischen Realität sind und dass verschiedene Akteure, die davon profitieren - wie die Propagandamaschine des Kremls - höchstwahrscheinlich versuchen werden, sie auszunutzen.
Wie fand die Messung statt?
Das Forschungsteam bestand aus Netzwerkwissenschaftler:innen und Politikwissenschaftler:innen. Während die Netzwerkanalyse die Struktur der Nutzerinteraktionen und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit aufzeigen kann, gibt die Analyse der Inhalte Aufschluss darüber, wie sich das Diskussionsklima entwickelt und welche Argumente die gegnerischen Seiten verbinden oder voneinander unterscheiden. Die Kombination von Forschungsmethoden und Fachwissen aus der Informatik und den Sozialwissenschaften konnte so einen ganzheitlicheren Blick auf die Diskussionen und die Dynamik in den sozialen Medien werfen.
Der Forschungsartikel wurde im European Physical Journal Data Science veröffentlicht.
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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteiliung