Es gibt zwei Sorten Ratten: Die hungrigen und die satten. Die satten bleiben vergnügt zu Haus, die hungrigen aber wandern aus.
Dieses Zitat aus Heinrich Heines „Die Wanderratten“ steht der eigentlichen Handlung des Romans von Timur Vermes voran. Es beschreibt vortrefflich und unerwartet genau, was die Leser_innen in „Die Hungrigen und die Satten“ erwartet – ohne dabei konkrete Handlungsstränge vorwegzunehmen. Dieser lyrische Einstieg hat mir so gut gefallen, dass ich das beim Lesen des Buches wiederholt zur ersten Seite zurückblätterte, um das Gedicht noch einmal zu lesen. Mit jeder Seite, die man liest, versteht man mehr, warum Vermes sich gerade für dieses Gedicht entschieden hat und sich wahrscheinlich so auch Inspiration für den Buchtitel geholt hat.
Timur Vermes wurde 1967 in Nürnberg geboren und studierte dann in Erlangen Geschichte und Politik. Anschließend arbeitete er als Journalist und Ghostwriter, er schrieb für die Abendzeitung, den Kölner Express und verschiedene Magazine. Viele von Euch kennen bestimmt schon seinen erfolgreichen Debütroman „Er ist wieder da“, der mit Oliver Masucci in der Hauptrolle verfilmt wurde.
Inhaltlich behandelt das Buch das fiktive Szenario eines Europas, das „seine Grenzen dicht macht“. Ein Szenario, das jedoch schon jetzt viele – erschreckend viele – Bezüge zur Gegenwart hat und sich so oder so ähnlich auch in der Realität ereignen könnte. Nadeche Hackenbusch ist TV-Moderatorin für einen Privatsender bei dem sie bisher eher mäßig erfolgreiche Formate moderierte. Doch endlich ist ihre Sternstunde gekommen: Nadeche soll auf große Mission gehen und ein Casting im größten Flüchtlingslager der Welt abhalten. Das lässt sich die naive Trash-TV-Moderatorin nicht zweimal sagen, sie macht sich auf ins ferne Afrika, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die geschmacklose Idee für die Sendung kommt übrigens von Herrn Sensenbrinck, den viele bestimmt schon aus dem Buch „Er ist wieder da“ kennen. Dieser ist lediglich an hohen Einschaltquoten und einer damit verbundenen hohen Gage interessiert. Aber was passiert, wenn die naive, aber engagierte Nadeche den Geflüchteten plötzlich eine Stimme geben will? Was passiert, wenn die Einschaltquoten sich überschlagen und der Produzent die Kontrolle über das Geschehen verliert? Was passiert, wenn 150.000 Geflüchtete trotz geschlossener Grenzen versuchen zu Fuß nach Europa zu gelangen?
Zitat aus dem Buch zur geschilderten Situation:
„[…] Ich wusste nicht, dass die Lage so verzweifelt ist. Ich dachte, ihr habt noch irgendeinen Trumpf im Ärmel.“ Der Staatssekretär steht auf. „Einen haben wir auch noch.“ Zuversichtlich wirkt er dennoch nicht. „Klingt eher nach Karo-Sieben als nach Kreuz-Bube.“ „Hm? Ist das Schafkopf?“ „Das ist Skat, du Paradebayer. Habt ihr da’n guten Trumpf oder mehr so Kleinscheiß?“ (Vermes:2018, S. 346 f.)
Genau dieser Fall wird in dem Roman beschrieben. Der Autor wechselt dabei zwischen verschiedenen Perspektiven, d.h. er springt von Nadeche Hackenbusch zum Produzenten Sensenbrinck und vom Staatssekretär zu der ambitionierten Journalistin Astrid von Roell. Abgesehen davon ist der Roman gespickt von Artikeln aus der Evangeline, eine Klatschzeitschrift für Frauen, in der die Journalistin von Roell ihre Texte veröffentlicht. Diese sind auch im typischen Zeitungsformat abgedruckt, also mit mehreren Spalten, Fettdruck und großgedruckten Zitaten an den Rändern. Durch die visuell ansprechende Aufmachung der Artikel macht das Lesen gleich doppelt Spaß und auch inhaltlich sind es gerade die Artikel, die mich häufig zum Schmunzeln gebracht haben. Sonst gibt es zu der Form und Gestaltung des Buches nicht viel zu sagen, aber es sei vielleicht noch angemerkt, dass das schlichte, fast billig aufgemachte Cover interpretiert werden muss. Mir persönlich hatte es zu Beginn überhaupt nicht zugesagt. Es erinnerte an Aufmachungen einer bekannten Tageszeitung: Weiße Fettdruckbuchstaben in Glanzoptik auf weißem Hintergrund.
Mittlerweile bin ich der Ansicht, dass sich Autor bewusst für eben diese Aufmachung entschieden hat, um auch hier seinen Sarkasmus einfließen zu lassen. Er verpackt einen guten, thematisch anspruchsvollen und politisch brandaktuellen Roman in einem billigen Glanzumschlag. Das ist jedoch nur meine Interpretation, die Ihr vielleicht besser nachvollziehen könnt, nachdem Ihr den Roman gelesen habt.
Insgesamt kann ich nur sagen, dass mich das Buch wirklich positiv überrascht hat. Schon im Vorhinein war ich mir zwar sicher gewesen, dass Timur Vermes mich mit seinem zweiten Roman nicht enttäuschen würde, aber ich war auch davon überzeugt gewesen, einen eher durchschnittlichen und nicht einen sehr guten Roman in der Hand zu halten. Da hatte ich mich wohl geirrt. Die Hungrigen und die Satten ist alles andere als ein durchschnittlicher Roman. Nicht nur die oft überspitzt dargestellten Handlungsstränge, sondern auch der Humor des Autors hat mir das Lesen am Morgen - mit noch halb verklebten Augen - wirklich leicht gemacht. Er stellt die hochpolitische Debatte um die „Flüchtlingskrise“ so dar, dass man sich mit der Thematik beschäftigen will, wenn man es bisher nicht getan hat. In diesem Buch kriegt jeder sein Fett weg, ganz egal ob Quotenjäger, besorgter Bürger oder nicht handelnder Politiker. Das Ende dieser grotesken Geschichte möchte ich an dieser Stelle natürlich noch nicht verraten, aber eins sei Euch gesagt: So schnell werdet Ihr dieses Buch nicht wieder vergessen!
Fazit:
Unerwartet bitter und fast zu nah an der Realität. Ich habe viel gelacht, musste oft schlucken und war durchweg hin- und hergerissen zwischen lachen, weinen und schreien. Ein bitterböser Roman, der den Zahn der Zeit trifft. Aufrüttelnd, aktuell, ungeschönt und intelligent – ein Roman, den Ihr lesen solltet!
*Erschienen bei lübbe*
Autorin / Autor: AnkaLisa - Stand: 3. April 2020