„Komm Brain!“ sagte Jay, als sie vom Bordstein aufstand und sich den Dreck von der schwarzen Hose abklopfte. „Wir müssen noch einmal zurück.“ Die kleine blaue Kugel mit den viel zu kleinen schwarzen Flügeln, die sie Brain getauft hatte, flog neben ihrem Kopf. Sie hatte ihn vor rund einem Jahr auf dem abgegrenzten alten Schrottplatz gefunden, repariert und modifiziert. Brain war ein schief gegangenes Experiment, künstliche Intelligenz herzustellen, also warf die Universität für neuzeitige Intelligenz, kurz U.N.I ihn weg. Doch glücklicherweise konnte Jay die Fehler beheben und ihn wieder vollständig herstellen. Seitdem ist Brain ihr ständiger Begleiter, worüber sie momentan auch ziemlich froh war, denn außer ihn hatte sie sonst niemanden mehr. Die Behörde für militärische Erweiterungen mithilfe von künstlicher Intelligenz hatte ihre Eltern vor knapp 5 Jahren mitgenommen und nie wieder zurückgebracht. Seitdem lebte sie bei den anderen zurückgelassenen Straßenkindern in der abgegrenzten Zone außerhalb der gewaltigen, farblosen Mauern, die das riesige Labor für technischen und biologischen Fortschritt einschlossen. Man könnte sagen der Himmel der Wissenschaft, doch Jay wusste es besser. „Das halte ich für keine gute Idee.“, sagte Brain, dessen einer Flügel unkontrolliert flatterte. „Wir waren erst gestern dort. Wir dürfen nicht immer auf unser Glück hoffen. Wir dürfen nicht riskieren das sie uns dieses Mal erwischen.“ Jedes Mal, wenn ihm ein Laut entkam, leuchteten seine Sensoren, die ihn wie Adern durchzogen, grün auf. „Dein Flügel flattert schon wieder unkontrolliert.“, antwortete sie nur während sie ihn nachdenklich betrachtete. „Deine linke Stahlkappe muss sich schon wieder verbogen haben und auf ein Teil deines Istor-Kerns drücken… verdammt! Das hatte ich schon befürchtet du hast einfach zu viel transparente Energie, die sich nicht ableiten lässt.“ Wütend kickte sie ein paar Kieselsteine weg. „Wir brauchen echt eine Alternative für dich. Sonst wirst du nur unnötigen Schaden davontragen.“ Seufzend blickte sie in den Himmel. Die Nacht war fast angebrochen und die einzelnen vorbeiziehenden Wolken leuchteten Orange-rot. „Hast du mir zugehört?“, fragte Brain. Seine Stimme war monoton und emotionslos. Aber daran hatte sie sich längst gewohnt. „Natürlich habe ich dir zugehört.“ Ihre Stimme klang empört. „Aber das werden wir schon nicht.“ Das Laternenlicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite flackerte wild. Es schien, als hätte der moderne Fortschritt nur innerhalb der Mauern stattgefunden, alles andere innerhalb der ausgegrenzten Zone blieb alt und unverändert. „Wir können nicht voraussehen ob etwas schief geht.“ „Dieses Risiko müssen wir eingehen.“ „Und wofür?“ „Für Antworten.“ „Das was du gestern gehört hast muss nicht von Bedeutung sein. Ein Echo oder ähnliches.“ „Es waren Schreie! Du hast sie doch auch gehört?! Niemand außerhalb dieser Mauern weiß was dort drin vor sich geht. Und es liegt an uns, es heraus zu finden.“ „Und danach? Was willst du dann machen?“ „Das…entscheide ich danach. Kommst du jetzt mit oder nicht?“ Sie wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern lief voraus in Richtung der Nordseite. Von dort aus konnte sie durch einen geheimen Gang leichter und unbemerkter ins Gebäude gelangen. Hell strahlte der Mond über ihr. War er größer geworden? Nein, das musste sie sich eingebildet haben. Mit Wohlwollen bemerkte sie, das Brain leise surrend neben ihr herflog. Er schien beleidigt zu sein. In letzter Zeit konnte Jay immer mehr feststellen, dass er das menschliche Verhalten analysierte und nachzuahmen versuchte. Bis jetzt mit noch keinem besonders großem Erfolg. Seine emotionalen Bereiche waren noch nicht sehr ausgereift. Er sagte immer: „Die Menschen sind so kompliziert. Bei euch gibt es kein Richtig oder Falsch, ihr handelt unlogisch obwohl ihr die Logik kennt, ihr ähnelt euch und seid doch so verschieden.“ In weiter Entfernung konnten sie die Stimmen einer Gruppe von Jugendlichen ausmachen, welche sich um ein Lagerfeuer versammelt hatten. Um sich sowohl mit Hitze wie auch mit Alkohol zu wärmen. Sie hatten vielleicht kein Zuhause wie man es sich vorstellte, aber sie hatten eine Zugehörigkeit. Es war wie eine riesige Familie aus Zurückgelassenen. Und darauf war Jay stolz, auch wenn sie sich allzu oft von ihnen entfernte, um mit Brain durch die Gegend zu streunen. Sie kamen der Nordmauer immer näher. Geduckt hielt sie sich im Schatten, während Brain hinter ihr schwirrte. Sein Flügel knackte bei jeder seiner Bewegungen. Knapp 3 Meter vor ihnen war eine kleine Tür in den Boden eingelassen, die zu einem unterirdischen Tunnel führte, welcher früher für Entsorgungszwecke genutzt wurde. Denn gute 200 Meter weiter rechts von ihnen lag der alte Schrottplatz und 100 Meter links von ihnen konnte man biologische und chemische Abfälle entsorgen. So stieg ihr der beißende Gestank des Mülls in die Nase, als sie sich langsam in geduckter Haltung auf die Tür zubewegte. Währenddessen störte Brain für einen kurzen Augenblick mit Magnetfeldern die Überwachungskameras und Sensoren. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“, lachte Jay. Brain gab nur ein mechanisches Brummen von sich, als sie die Wendeltreppe hinunterschlichen, um in den angrenzenden Tunnel zu kommen. Die so bekannten Pfade. Wie oft waren sie schon hier gewesen? Hatten jeden Winkel erkundet. Jedes Versteck ausgekundschaftet. Jay kannte diesen Ort besser als jeder andere. Fast schon lautlos lief sie den Tunnel entlang, der geradewegs unter der Kantine verlief. Brain folgte ihr surrend. Sein Flügel knackte unaufhörlich und durchbrach die Totenstille. „Psst! Beweg deinen Flügel nicht so viel. Das verschlimmert es nur noch. Du musst mehr Antriebskraft in den anderen legen.“ Die weißen Tunnelwände waren mit Staub, Kreide und Dreck bedeckt, der immer mehr abbröckelte. Brains schwaches Licht erhellte ihren Weg nur minimal, doch das war nicht weiter schlimm. Denn Jay hatte gelernt, auch im Dunklen sehen zu können. Sie vertraute einzig und allein auf ihre anderen Sinne. Mit raschelndem Stoff bog sie rechts ab, dann links und dann noch einmal links, bis sie das Ende erreicht hatten, welches im Ostturm lag. Dieser Teil des Gebäudes lag seit Monaten verlassen, so hatten sie keine Befürchtungen, entdeckt zu werden. Vom Tunnel aus gelangten sie in das Treppenhaus, welches steril und ohne Fenster war. Im 5. Stock wollten sie es wieder verlassen, um in die angrenzende medizinische Ostabteilung zu gelangen. „Brain, nimmst du irgendwelche Bedrohungen wahr?“ „Zwei technische Wachmänner, 037H-regestrierte stehen hinter der Ecke im zweiten Gang rechts.“, antwortete er, nachdem er einen atomaren Rundumscann durchführte. „Okay gut.“ Schweigend betrat sie den Gang außerhalb des Treppenhauses. Brain schwebte unmittelbar über ihrer Schulter, als sie ihn entlanglief. „Du weißt was du zu tun hast.“, flüsterte sie, bevor sie vorsichtig um die Ecke blickte. Binnen weniger Sekunden hatte Brain das Betriebssystem der beiden Wächter gehakt und umgeschrieben. Ohne Spuren zu hinterlassen. So konnten sie ungehindert an ihnen vorbei. „Brain schnell! Visueller Filter.“ Schon wurden sie unsichtbar für aller Augen. Aus den engen weißen Gängen wurde breite offene Flächen mit Meter hohen Wänden, auf denen abgeschirmte Glaszimmer standen, in denen die Patienten behandelt wurden. Es war eher eine riesige Halle, die sich ihnen offenbarte. Leise Schritte hallten über den Marmorboden und das surren von Brains Flügel war fast vollkommen verstummt, da er sich mit dünnen Greifarmen an ihre rechte Schulter geklammert hatte. Hin und wieder lösten sich einzelne Plateaus mit Glaszimmern darauf und schwebten durch die gewaltige Halle, nur um sich woanders abzusetzen. Mit schnell pochendem Herz hielt Jay die Luft an. Eine ältere Frau ihm Doktormantel mit einem digitalen Klemmbrett in der linken Hand lief an ihr vorbei, in Richtung der enger werdenden Gänge. Doch sie schien sie nicht bemerkt zu haben. Schnellen Schrittes durchquerte sie die Halle. „Bist du dir sicher in dem, was du machst?“, ertönte Brains Stimme neben ihrem Ohr, als er ihre Wärmesignaturen vor der Außenwelt abschottete. Sie hatten das Ende der Halle erreicht und links eine Metalltreppe nach unten genommen. „Still jetzt!“, zischte sie nur. Sie hatte jetzt keine Zeit dafür. Sie musste rausfinden, was hier vor sich ging. „Achtung rechts!“, warnte Brain sie. Aus dem Gang rechts von ihnen kam eine Reihe weißer Roboter in menschlicher Gestalt mit blau leuchtenden Augen, die alles mit Rotlicht abscannten. Sie bogen in den Gang, aus dem die beiden gekommen sind. Vorsichtig schlichen sie sich an ihnen vorbei, während Brain ein zweites Schutzschild über den visuellen Filter legte, um die Chance entdeckt zu werden zu verringern. Plötzlich löste sich ein Roboter aus der Gruppe. Entgegengesetzt der anderen Maschinen steuerte er geradewegs mit hektisch blinkenden Augen auf sie zu. Kurz vor ihnen blieb er stehen und scannte die Umgebung. Brain schwebte jetzt direkt über Jay welche sich hingehockt hatte. Innerhalb weniger Sekunden hakte er sich in des Roboters Steuerungssystems und machte aus der künstlichen Intelligenz eine befehlswillige Maschine, die den Ruf des Gruppenanführers ohne Umschweife folgte und verschwand. „Okay das ist knapp gewesen.“, sagte sie, als sie sich wiederaufrichtete. „Sei froh das du mich hast.“, antwortete er nur. Doch sie hätte schwören können einen leichten Vorwurf in seiner Stimme erkannt zu haben. Plötzlich zog ein Lichtblitz, der aus einem anliegenden Nebenzimmer kam, dessen Stahltür einen Spalt breit offenstand, Jays Aufmerksamkeit auf sich. Leise, darauf bedacht kein einziges Geräusch zu machen, schlich sie sich an. Immer noch von Brains Tarnvorrichtung umgeben und geschützt, blicke sie in den Raum, der eher an eine modernisierte Folterzelle erinnerte. In der Mitte lag eine junge, braunhaarige Frau auf einer grauen Liege, die auf einem Podest stand. Ihre Hände und Füße waren festgebunden und sie trug nicht mehr als Unterwäsche. Ihr verschwitzter Körper war von Dreck und Blut beschmutzt. Mit einem desinfizierten Skalpell setzte ein grauer skelettartiger Roboter ohne Gesicht einen präzisen Schnitt in Höhe ihres Brustkorbes. Heiser schrie die Frau auf. Die Stelle war nicht betäubt worden. Dies hier schien keine Notfalloperation nach einem Unfall zu sein. Es wirkte eher wie ein unkontrollierbares Menschenexperiment. Drei weitere Personen, zwei Männer und eine Frau in Doktormänteln und mit Hand- und Mundschutz traten in ihr Blickfeld und versammelten sich um die Liege. Ein bereits ergrauter Mann hielt einen wild zappelnden roten Käfer, dessen Körper mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war, zwischen den Fingern. „Setz ihr den ein.“, befahl er dem Roboter als er ihm den Käfer gab. Dann wandte er sich wieder an die anderen beiden. „Wenn uns das hier gelingt, dann kann ich euch mit Stolz den Menschen von morgen präsentieren. Wenn das funktioniert, dann brauchen wir keine Roboter mehr. Dann können wir die Menschen für unsere Zwecke nutzen. Eine Welt ohne Widerstand gegen den Fortschritt und einer Menschheit die das Potenzial eingepflanzt bekommen kann.“ Schreiend bäumte die Frau sich auf. Ihre Hände rissen an den Fesseln, ihre Haut wurde blau und ihr lief das Blut aus den Augen. Das konnte Jay sich das nicht länger ansehen. So schnell ihre Beine sie trugen, rannte sie den Weg zurück, die Treppe hoch, durch die Halle, ins Treppenhaus und zurück durch den Tunnel nach draußen. Weg von diesem Gebäude. Weg von diesen Mauern. Die Augen voll Tränen hielt sie keuchend an einer Parkbank. Tief sog sie die unreine Luft in ihre Lunge. Die tiefschwarze Nacht war bereits angebrochen und die Sterne funkelten hell über ihnen. Mit bebender Lippe setzte sie sich, die linke Seite haltend, auf die beschmierte grüne Parkbank. Brain schwebte neben ihr. Den Kopf in den Nacken gelegt blickte sie hinauf, in die unendlichen Weiten des Weltraumes. „Was würde ich nur dafür geben, dort oben zu sein. Weg von dieser grausamen Welt.“, ihre Stimme zitterte gefährlich. Aufgeregt blinkten Brains Sensoren grün. „Dort oben gibt es nichts.“ „Das weißt du nicht!“ „Nichts was dir ein besseres Leben verschaffen würde.“ Darauf sagte sie nichts mehr. „Was gedenkst du nun zu tun?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Surrend ließ er sich neben sie auf die Bankfläche gleitet, wobei er seine Greifarme wieder einfuhr. Sein Flügel war fast vollständig überdreht. „Das, das dort drin. Was war das? Ich meine…, ich meine was haben die da gemacht? Das war doch nicht menschlich.“ Still liefen ihre Tränen und hinterließen heiße Spuren. „Ich nehme an, sie versuchen eine Art zweites Netzwerk in ihrem Körper aufzubauen, mit Hilfe dieser leitenden Käfer, welche sich vermutlich in ihre Organteile setzen sollte. Eine Art zweites Kontrollsystem. Augenscheinlich haben sie jedoch die Tatsache, dass ein toxischer Fremdkörper im menschlichen Körper zu einer Überreaktion führt und der Körper in Folge dessen das Gift wieder loswerden will nicht mitbedacht.“ Stumm starrte sie ihn an. „Aber warum? Ich verstehe nicht. Was für einen Nutzen hätte das denn für sie?“ „Sowohl einen militärischen wie auch einen wirtschaftlich-politischen.“ „Was für eine scheiß Welt!“ „Jede Zeit hat ihre Vor- und Nachtteile. Du darfst nur nicht immer nur eine Seite der Münze betrachten.“ „Das sagst du so leicht. Du bist ein Roboter.“ „Um korrekt zu sein, eine hoch entwickelte künstliche Intelligenz.“ Jay schnaubte. „Jetzt da du das Wissen über die inoffiziellen Aktivitäten der U.N.I. hast, darfst du es nicht einfach so wegwerfen.“ „Und was soll ich deiner Meinung nachtun?“ Ihre Tränen waren getrocknet und bildeten eine salzige zweite Haut. „Das, weswegen du das Risiko, erwischt zu werden, eingegangen bist.“ „Du meinst ich soll…Hast du alles aufgezeichnet?“ „Jede einzelne Sekunde.“ Entschlossen schaute sie die kleine blaue Kugel mit den schwarzen Flügeln und den grünen Lichtern an, als ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. „Das wird uns wahrscheinlich zu Hochverrätern machen. Wir wissen nicht wie weit ihre Wurzeln schon reichen. Wenn wir Pech haben wird die halbe internationale Behörde für Verbrechen hinter uns her sein. Zumindest, wenn sie herausfinden, dass wir dahinterstecken.“ „Unsere Chance, erfolgreich zu sein liegen bei 57,13 %.“ „Okay. Das reicht.“ Jays braune Augen glitzerten, während der kühle Wind ihr durch die Haare blies. „Zeigen wir der Welt, was sie noch nicht weiß. Zeigen wir ihr, was vor ihr geheim gehalten werden sollte. Und wenn wir dafür in Teufelsküche schmoren, so weiß ich wenigstens, ich habe das Richtige getan.“