Die Richter-Maschine

Von Friedrich J. Schnall, 16 Jahre

Guten Tag.
Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, handelt davon, wie wir die Welt zur Perfektion gebracht haben.
Perfektion ist kein abstrakter Begriff. Es ist eine konkrete Größe, nach der die Menschen seit Anbeginn der Zeit streben.
Unerreichbar? Mitnichten!
Was uns gefehlt hat, war weder die Bereitschaft noch der Anreiz.
Es war der Fortschritt.
Passen Sie gut auf. Sie sind immerhin bald ebenfalls an der Reihe.

Zu Beginn ging es darum, dass Recht und Unrecht, fundamentale Prinzipien, auf denen unsere Gesellschaft fußt, immer schwieriger umzusetzen sind. Warum das?
Weil die, die die menschlichen Fehler beurteilen sollten, selbst Menschen waren.
Solange die Menschheit beschränkt war, dumm und fügsam, mag das noch funktioniert haben. Schwarz und Weiß waren einfach – wer stahl, der war schlecht. Von wem gestohlen wurde, der war gut.
Richtig?
Selbst wenn der Bestohlene selbst ein Schurke war? Wenn dem Dieb kein anderer Weg blieb, als sich durch Raub zu ernähren?
Nun?
Schwarz und Weiß sind eben nicht einfach.

Doch eines Tages hat der Fortschritt alles geändert.
Menschen können nur innerhalb ihrer Beschränktheit über andere richten. Sie sind eigentlich völlig ungeeignet für diese Aufgabe.
Wer aber ist geeignet? Wer ist unvoreingenommen, hat das Ganze im Blick, macht keine Fehler?
Eine Maschine.
Eine Maschine, um herauszufinden, wer gut und wer böse ist. Ist das nicht ein ansprechender Gedanke?
Aber es darf nicht irgendeine sein. Es muss die beste, größte, hervorragendste Maschine aller Zeiten sein.
Denn es muss eine Maschine sein, die gerecht sein kann.

Was nötig war, war Perfektion.

Die Arbeit am Richter der Menschheit dauerte Jahre und Jahrzehnte. Tausende trugen zu diesem Monumentalprojekt bei. Programmierer, Juristen, Mathematiker, Reinigungskräfte, Ingenieure.
Visionäre.
Was erschaffen werden sollte, war eine Maschine, die denken kann. Eine Maschine, die alle ihre Fehler selbst ausmerzen kann. Eine Maschine, die fernab von Bedürfnissen, die sie bestechlich machen würden, wahrhaft gerechte Urteile fällen kann – kurz, eine Maschine, die entscheiden kann, was einem jeden Menschen gebührt, seinen Missetaten und Verdiensten entsprechend.
Zu diesem Zweck scheuten wir weder Kosten noch Mühen. Millionen und Milliarden an Geldern flossen in unsere Kreation.
Und endlich war es so weit.

Ich werde nicht verraten, wo sich die Richter-Maschine befindet. Zu viele schlechte Menschen haben einst versucht, sie zu manipulieren, oder gar zu zerstören.
Auch wie die Maschine aussieht, werde ich verschweigen.
Aber ich will gern erklären, wie die Prozedur abläuft.
Sehen Sie diese Kabine?
Dort drinnen befindet sich ein Stuhl, an dem ein Helm befestigt ist. Die Innenseite des Helms ist bestückt mit Zigtausenden Elektroden, die die Gehirnströme messen und daraus …  gewisse Tendenzen eines Menschen errechnen können.
Aber das ist noch nicht das Ende! Die Maschine wird Ihr Gehirn gewissermaßen digital sezieren. Bis in einzelne Axone und Neuronen aufteilen, um absolut alles über Sie herauszufinden.
Denn nur so kann man sich sicher sein, dass ein Urteil gerecht ist.
Keine Lügen! Keine Halbwahrheiten! Keine Bestechung, kein Meineid, keine Drohungen, kein Verbergen und Vertuschen!
Die blanke Wahrheit.
Der Richter wurde eingeweiht, und er sprach tausende Urteile. Er stellte alle Tugenden und alle Fehler eines jeden Menschen fest. Keine seiner Entscheidungen wurde je angezweifelt. Er lotete alle Verbrechen bis zur Vollkommenheit aus.
Wer gut war, dem wurde gelohnt. Wer schlecht war, der wurde gestraft. Die Allerschlechtesten entfernte der Richter dauerhaft.

Doch dann kam uns ein Gedanke. Warum hier aufhören? Warum die perfekten Urteile des Richters nicht auf alle übertragen? Warum nicht schon ein Urteil fällen, bevor eine Tat es notwendig macht? Der Richter kann alles herausfinden. Alle Neigungen der Menschen.
Also warum sich das nicht zu Nutze machen? Diejenigen, die Verbrechen begehen werden schon präventiv aussortieren! Den Mörder nicht erst nach der Tat fassen und dem Richter übergeben! Stattdessen durchsucht Sie der Richter schon vorher! Jeden Gedankenstrom nimmt er wahr, alle Triebe! Und wer Mordlust hegt, oder Rachsucht, oder Gier, der wird schon daran gehindert, diesen Instinkten überhaupt erst zu folgen!
Der Richter entfernt, wer schlecht ist. Der Richter entfernt, wer nutzlos ist. Der Richter entfernt, wer geistlos, dumm oder schädlich, intrigant oder irre ist.
Mit anderen Worten: Perfektion.

Nun, Sie sind an der Reihe. Steigen Sie in die Kabine. Keine Sorge. Der Richter wird Ihnen angedeihen lassen, was Ihnen gebührt. Sie sind immerhin eine gute Person.

Sie haben doch nichts zu verbergen, oder?

Autorin / Autor: Friedrich J. Schnall