Wir sind zurück in Gilead, dem krassen Patriarchat, das Margaret Atwood vor mehreren Jahrzehnten ersonnen hat. In dem Staat, der von Männern dominiert und regiert wird und in dem Frauen eigentlich gar nichts zu sagen haben, sondern brav die eine, ihnen zugeschriebene Arbeit verrichten und sich nicht darüber beschweren. Sie kochen, sie bilden aus oder sie sind eben Gebärmaschinen. Aber ist das wirklich alles?
Anders als in „Der Report der Magd“, in dem die Erzählerin die Zeugenaussage der Magd Desfred vorliest, ist „Die Zeuginnen“ aus drei Perspektiven geschrieben. Da ist einmal Agnes, die in einem liebevollen Haushalt aufwächst. Ihre Mutter Tabitha liebt sie sehr, ihr Vater ist ein angesehener Kommandant, ihre Marthas verwöhnen sie und in der Schule ist sie beliebt. Agnes führt trotz der strengen Gesetze und Regeln, die in Gilead herrschen, ein angenehmes und behütetes Leben. Erst nach Tabithas Tod durchziehen Agnes Welt auf einmal Risse, denn Tabitha ist gar nicht ihre Mutter! Eben noch eine angesehene angehende Ehefrau von Gilead, verliert sie nun schlagartig ihren guten Ruf. Freundinnen soll sie in der Republik Gilead eh nicht haben, aber einige der Mädchen stehen ihr, ebenso wie ihre neue Stiefmutter, fast feindselig gegenüber…
Agnes soll, wie viele andere jungen Frauen in Gilead auch, verheiratet werden. Dafür sorgen nicht nur ihre Stiefeltern, sondern auch die Tanten mit all ihrer Macht. Die Tanten, die mitbestimmen, was die Töchter, die Ehefrauen und die Ökonofrauen, die Marthas und die Mägde von Gilead dürfen und an welcher Stelle ihre Bedürfnisse und ihre Rechte beschnitten werden. Geleitet werden die Bemühungen von Tante Lydia, einer der Gründertanten Gileads. Sie ist DIE Tante, die Haus Ardua unter ihrer Fuchtel hat. Die Regeln, die hier aufgestellt werden, beschränken und stutzen die werdenden und gestandenen Frauen, wo sie nur können. Doch heimlich, in ihrem Büro, legt Lydia Zeugnis über ihre Taten ab und berichtet von den politischen Machtspielen in Gilead, an denen sie mehr Anteil hat, als Mann (in diesem Fall dann wohl Engel oder Auge) glauben mag.
Neben der Zeugenaussage von Agnes und dem Bericht von Lydia aus dem Inneren von Gilead ist da noch der Zeugenbericht von Daisy, die in Kanada aufgewachsen ist und deren einzige Berührungspunkte mit Gilead zunächst der Schulunterricht und die Demos gegen die Theokratie sind. Doch als vor dem Geschäft ihrer Eltern eine Bombe hochgeht, wird Daisys Leben komplett auf den Kopf gestellt und vollzieht eine abrupte Wende, die sie unweigerlich mit Gilead verknüpft.
Am Anfang des (Hör-)Buchs laufen die drei Erzählungen noch lose nebeneinanderher und weisen nicht viele Überschneidungen auf, doch nach und nach verknüpfen sich einzelne Ereignisse, bis sie zu einem Erzählstrom zusammenfließen, der eine Reihe von Ereignissen aus drei unterschiedlichen, sich ergänzenden Perspektiven betrachtet. Dadurch ist die Erzählung sehr dicht und vielschichtig. Das Hörbuch wird, abgesehen von einem kurzen Redebeitrag am Ende, von drei unterschiedlichen Frauen gelesen, sodass immer klar ist, welche der drei Protagonistinnen gerade aus ihrem Leben vor, in oder außerhalb von Gilead berichtet. Die drei Sprecherinnen verkörpern ihre jeweilige Protagonistin sehr überzeugend und wunderbar eindrücklich.
Mir hat diese Fortsetzung von dem Report der Magd sehr gut gefallen, besonders die unterschiedlichen Perspektiven lassen die mehr als 13 Stunden schnell vergehen. Dabei schieben sich neben den unterschiedlichen Erzählsträngen auch verschiedene zeitliche Ebenen ineinander, zum Beispiel erfährt die Zuhörerin, dass Lydia vor dem Putsch der Söhne Jakobs Richterin war und wie sie in den Anfangstagen Gileads getestet und gebrochen wurde. Gerade dieser Einblick in das Leben einer der Gründertanten, die so bedingungslos hinter der Republik Gilead zu stehen scheint, finde ich sehr spannend. Denn die Abneigung, die man den Tanten gegenüber aufbaut, wird durch diese Inneneinsicht auf die Probe gestellt. Dann und wann habe ich mich sogar dabei ertappt, dass ich Mitgefühl mit Lydia empfunden habe.
Durch die unterschiedlichen Blickwinkel, aus denen die Zeuginnen sprechen wird in dem Hörbuch konstant die Spannung gehalten. Das sorgt dafür, dass sich die Geschichte rund um Gilead nur bedingt zum Nebenher-Hören eignet.
Wer eine Fortsetzung erwartete, die genauso konzipiert ist, wie „Der Report der Magd“, wird von dem zweiten Teil vielleicht enttäuscht sein. Wer sich aber darauf einlässt, Gilead aus neuen Perspektiven und in einem deutlich rasanteren Erzähltempo kennenzulernen, den wird „Die Zeuginnen“ umhauen. Das Thema hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt und damals wie heute kann man immer wieder Parallelen zwischen der theokratischen Republik und der Welt, wie wir sie kennen, ziehen. Das sollte uns allen zu denken geben und im besten Fall vielleicht zum Handeln bewegen.
*Erschienen bei Osterworld*
Autorin / Autor: karla94 - Stand: 10. Februar 2020