Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
Sie öffnet langsam die Augen. Ihre Lider sind schwer. Sie ist müde, erschöpft. Im leichten Schimmerlicht der Notlampe im Krankenhauszimmer sieht sie ihren Vater zusammengesunken auf dem Korbstuhl in der Ecke des Raumes sitzen. Wie lange er wohl schon auf ihr Aufwachen wartet?
Sie erinnert sich nicht gerne an die letzten Wochen. Nach dem Schwimmtraining ist sie einfach in der Dusche umgekippt, ohnmächtig. Nicht lange, aber es hat gereicht, um ihr ganzes Leben zu verändern. Die Ärzte stellten einen Gehirntumor fest. Obwohl sie immer darauf geachtet hat, sich gesund zu ernähren, wie es die Regierung vorschreibt. Sie hat sich genau an ihren Fitnessplan gehalten. Das kann man an ihrem Gesundheitschip erkennen. Rauchen und Alkohol sind schon lange verboten. Und trotzdem war sie krank. Alles musste schnell gehen. Sie kam ins Krankenhaus, wurde auf die lebensrettende OP fast 2 Wochen lang vorbereitet. Die Ärzte sind auf Transplantationen spezialisiert. Ihr wurde erklärt, dass sie einfach die gesunde Kopie ihres eigenen Gehirns wieder eingesetzt bekommt. Nach wenigen Wochen wird sich Ihr Körper vollkommen daran gewöhnt haben und sie kann wieder leben wie früher.
Sie hat sie noch vor Augen, die Skandalberichte aus der Zeitung dem Fernsehen, dem Radio. „Unverantwortlich“, „Menschenverachtend“, „Klonkopien führen ein Leben um für das eigene Ich zu sterben – Wo hört der Wahnsinn auf?“. Bis jetzt musste sie sich noch nicht damit beschäftigen, das war alles fremd und weit weg. Aus ihrer Familie ist sie die erste, von der, noch vor ihrer Geburt, eine Klonkopie erstellt wurde. Alle sehen täglich die Leichenwagen aus der Sperrzone hinter den Transplantationskliniken rollen. Und doch sieht sie keiner. Wie mag das Mädchen wohl gewesen sein. Hat es auch einen kleinen Bruder gehabt und Eltern wie sie? Wie ist das Leben hinter den dicken Mauern, dem Stacheldraht und den Sicherheitsschleusen? Leonie möchte über diese Sachen nicht nachdenken, sie einfach verdrängen wie alle es tun. Die Erschöpfung reißt sie zurück in den Schlaf und doch geht ihr ein Gedanke nicht aus dem Kopf: Vor wenigen Stunden ist ein Mädchen für mich gestorben, ein Mädchen mit Familie, mit Freunden, mit Wünschen und Plänen – ein Mädchen wie Ich!
Sie schreit, weint, wehrt sich gegen die starken Griffe der Aufseher an ihrem Arm. Alle wissen, dass dieser Tag irgendwann kommt – aber warum jetzt, warum Sie? Und dann ausgerechnet direkt das Lebenswichtigste, das der Körper besitzt. Was soll Lukas jetzt machen, ohne sie ist er hilflos, er ist doch erst 4. Sie fühlte sich doch gerade so wohl in ihrer neuen Familie, nachdem sie lange, wie viele andere Klonkinder auch, in einem Heim, einer Art Aufzuchtsstation, gelebt hat, bis sich erwachsene Klone gefunden haben, die gerne eine Familie gründen möchten und sie adoptieren. Es ist ein Risiko, man weiß nie wie lange eine solche Familie bestehen kann. Manche leben ein Leben wie die Menschen auf der anderen Seite, mache müssen sterben bevor sie sich richtig lieben gelernt haben. Sie hat sich ein Leben aufgebaut, wurde adoptiert genau wie Lukas. Sie hatte gerade erst die Schule beendet, etwas zu spät, dafür aber mit Bestleistungen. Alle waren überzeugt davon, dass sie mal eine gute Lehrerin oder Aufseherin in ihrem Distrikt wird. Doch vor etwa zwei Wochen kam ein Brief.
Sehr geehrte Sophie, wir bedauern sehr ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Gehirn…
Weiter kam sie nicht, sie brach in einem Heulkrampf zusammen, schrie so lange bis ihre Mutter sie fest in den Arm genommen hat, ihr über den Kopf strich - aber gesagt hat sie nichts. Was soll man auch sagen, wenn dem eigenen Kind der Tod per Post mitgeteilt wird? Aber so geht das immer. Sie führen ein Leben um einen Menschen auf der anderen Seite der Mauer zu retten. Das wird ihnen schon in frühster Kindheit erzählt. Sie sind so etwas wie Helden, aber müsste sich das nicht gut anfühlen? Nun ist es so weit, sie hatte noch eine Stunde länger Zeit, als geplant, sich von ihrer Familie und den engsten Freunden zu verabschieden. Jetzt wird sie in den OP gebracht. Das Betäubungsmittel wirkt schnell, alles verschwimmt vor Ihren Augen und der letzte Gedanke den sie fassen kann ist: Wie sieht sie wohl aus? Was ist Ihr passiert, dass sie ein neues Gehirn braucht? Und warum tut sie mir das an? Wer hat Ihr erlaubt mein Leben zu zerstören, sie ist doch auch nur ein Mädchen wie ich!