Elektrizität und Himmelsfische

Autor*innen: Andrej Bulbenko und Marta Kajdanowskaja
ins Deutsche übersetzt von Henriette Reisner und Olga Radetzkaja

Marzia ist 14, hat Mutter und Vater, eine nervige kleine Schwester Toni, einen schwerhörigen Opa, eine besorgte Oma und ein ganz neues, frisch geliefertes Bett, das unbedingt aufgebaut werden muss. Doch Marzia wird nie darin schlafen, denn die Stadt wird bombardiert und die Familie macht sich im überfüllten Auto zusammen mit tausenden anderen Flüchtlingen auf den Weg, das Land zu verlassen...

Marzia hält ihre Fluchterfahrung in tagebuchartigen Notizen fest, die sie in einem Motel ihrer Zufallsbekanntschaft, einem Schriftsteller, übergibt, bevor die Familie die Überschreitung der Grenze wagen will. Der Schriftsteller beschreibt in der „Vorbemerkung des Zweitautors“, dass er diese Notizen erst nach dem Ablauf einer gewissen Zeit, in der er keine Nachricht von Marzia erhalten hat, lesen durfte und sich nun berufen fühlt, die Erlebnisse der Schülerin der Öffentlichkeit zu vermitteln. Was wie eine klassische Herausgeberfiktion aussieht, wird durch die Autorennotiz auf der Einschlagklappe in Frage gestellt. Dort heißt es, dass Schöpfer und Schöpferin des Buches beide flüchten mussten und hier unter Pseudonym schreiben. Sie wollen das Leid der Ukrainer im Krieg literarisch bespiegeln, welches Kinder besonders grausam trifft. Wieviel Biografisches wirklich in diesem Text steckt, darüber kann die Leserschaft dann allerdings nur spekulieren. Zumindest steht „Roman“ erst hinten auf dem Schutzumschlag. Vorn steht „Fluchtgeschichte“.

Dank des Klappentextes ist schnell klar, dass der Handlungsort die Ukraine und der Zeitraum Februar 2022 ist, als das Land von Russland angegriffen wurde. Im Buch selber werden diese Fakten aber nie genannt. Der Zeitraum wird zu einem nicht endenden Februar verfremdet: Am „69. Februar ...22“ präsentiert der Schriftsteller uns Marzias Aufzeichnungen. Der einzige namentlich erwähnte Ort ist „der Ruppigon“. Er meint offenbar die Landesgrenze und erinnert lautlich sicher nicht zufällig an den historischen Grenzfluss Rubikon, dessen sprichwörtliche Überschreitung eine riskante unumkehrbare Handlung meint. Eine solch folgenschwere Entscheidung ist natürlich der militärische Akt, einen Krieg zu beginnen, der die gesellschaftlichen Verhältnisse auf unserem Kontinent erschüttert. Folgenschwer ist auch die Flucht jedes einzelnen Zivilisten ins Ausland. Sie ist lebensgefährlich und wird Familiengeschichten unwiederbringlich verändern und vernarben.

Ich halte diese Verfremdungen für ein sehr gelungenes literarisches Element, weil sie Krieg und Flucht als zeit- und raumunabhängige Problematik der Menschheit darstellen, die immer wieder die gleiche Art von Angst und Leid erzeugt.

Trotz der ernsten Thematik ist die Leseerfahrung oft heiter und lustig. Marzia schildert uns die ewigen Streitereien ihrer arg gestressten Familie durch die Linse des zwischen Liebe und Abneigung hin- und hergerissenen Teenagers. Die Geschichte ist holprig, hat Tempo und macht uns immer wieder staunen mittels surrealer Momente. Diese stehen meiner Meinung nach sinnbildlich für die ganze Absurdität eines Kriegs. Obwohl Marzia alt genug ist, die meisten Vorgänge zu verstehen und Gefahren richtig einzuschätzen, verschont uns das Buch mit expliziten Beschreibungen von Tod und Gewalt. Einige angsteinflößende Situationen gibt Marzia eher distanziert wieder. Sie lässt uns auchoft an der naiven Weltsicht der kleinen Schwester teilhaben, für die alles ein großes Abenteuer ist.

So steht das Umschlagmotiv – ein Objekt, das zwischen Luftballon und Bombe schwankt – treffend für die Unvereinbarkeit des kriegerisch Gewaltvollen mit kindlicher Unschuld. (Dieses Gegensatzpaar hat mich in dieser Optik sehr an die Streetart von Banksy erinnert, der 2022 mit mehreren Werken den Krieg in der Ukraine kommentierte.)

Das Buch ist, wenngleich es sich schon an Jugendliche ab 14 Jahren richtet, ziemlich anspruchsvoll und ermöglicht literarisches Vergnügen auf verschiedenen Ebenen. Mich haben z. B. die mit vielseitig deutbarer Symbolik aufgeladenen Orte und Objekte zum Nachdenken angeregt – das Bett, das Motel, die vom Himmel fallenden Fische... Es gibt Anspielungen auf die Realität, die nur „eingeweihte“ Leser und Leserinnen verstehen werden. Wer sich mit den Details der Kriegsführung in der Ukraine, militärischen Symbolen usw. nicht auskennt, dem bleiben einzelne Szenen etwas unverständlich, denke ich. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen, denn so begibt man sich in die Rolle des Kindes, das eben nicht alles begreift, was auf der Flucht passiert. Der Geschichte kann man trotzdem sehr gut folgen. Wer gerne Gesellschafts- und Politikkritik zwischen den Zeilen liest, darf sich auf das Gleichnis von den Füchsen und Hühnern freuen, das für mich ein Highlight des Romans war. Außerdem zeigt sich die Kreativität der Menschen, die erfunden und übersetzt haben, in einfallsreichen Wortspielen. Wer das russischsprachige Original (erschienen 2022) lesen kann, wird sicher Freude an einem Vergleich des Werks in beiden Sprachen haben.

Ich halte das Buch für ein brandaktuelles und wichtiges Stück Literatur, das eine empathische Auseinandersetzung mit der vom Krieg in der Ukraine betroffenen Bevölkerung möglich macht, ohne uns expliziten Gewaltdarstellungen auszusetzen. Dank der experimentell-collagenhaften Konzeption des Buches wird eine Leserschaft angesprochen, die anspruchsvoll komponierte Texte schätzt und auf einen klaren Ausgang der Geschichte verzichten kann.


Erschienen bei dtv

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Autorin / Autor: Christina Weigel - Stand: 30. Juli 2024